Michael Flügel Quintet feat. Enrico Rava | 22.10.1999

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Plattenaufnahmen haben ihre eigenen Gesetze. Da fließ Adrenalin in Sturzbächen, der Drang nach Perfektion hemmt oder beflügelt – je nach Typus – die Musiker, die Anspannung scheint mit Händen greifbar; bei einem Livemitschnitt noch wesentlich intensiver, als im Schutz eines Tonstudios, das einem bei Fehlern die Möglichkeit zur schnellen Korrektur einräumt.

Hier jedoch muß alles auf Anhieb sitzen. Viele zerbrechen an dieser Bürde schon nach wenigen Takten. Auch das Quartett des Würzburger Pianisten Michael Flügel tat sich hörbar schwer, als im Neuburger Hofapothekenkeller die Bänder für die Neuauflage der in den frühen 90ern überaus erfolgreichen „Live At Birdland“-Reihe (wiederbelebt mit Unterstützung des holländischen „Challenge“-Labels) zu laufen begannen. Wackelige Satzarbeit, verhaltene Soli, unverkennbare Abstimmungsprobleme: das erste Stück des Abends, der Swing-Klassiker „Doxy“, dürfte auf der späteren CD wohl kaum enthalten sein.

Dafür das allermeiste vom Rest. Und es geriet zum Oeuvre für einen der brillantesten Trompeter der Gegenwart: Enrico Rava. Den 56jährigen, mit allen Wasser dieses seltsamen Business gewaschenen Italiener können solche Ereignisse nach über 150 Platteneinspielungen kaum mehr aus der Ruhe bringen. Wie ein Fels in der Brandung steht er mit seinen weißen, wallenden Haaren auf der Bühne, lässt alle Hektik scheinbar völlig an sich abprallen und nimmt den Jungspunden, die ihn als Stargast mit an die Donau brachten, im Nu jegliches Lampenfieber.

Warum Rava als eine der einflussreichsten Autoritäten der europäischen Szene gilt und mit seinem intuitiven Verständnis für Progression und Lyrik neue ästhetische Parameter definierte, ist nach dem Eingangssolo des sperrigen Jazzwalzers „Theme For Jessica Tatum“ eigentlich jedem im „Birdland“ sonnenklar. Technisch brillant, stilistisch autonom und trotzdem anpassungsfähig: faszinierender als er klang seit Freddie Hubbard 1991 im Keller kein Trompeter mehr.

Rava nährt seine emotional-warmes Spiel aus der Verbindung von Melos und Feuer, er lupft Akkordprogressionen mit strahlender Prägnanz zu vulkanartigen Bopexperimenten amerikanischer Prägung empor („East Broadway Run Down“), versinkt in slawischen Mollstimmungen („Diva“), um sich kurz darauf in die Reggae-Lässigkeit der restaurierten Uralt-Schmonzette „You Don`t Know What Love Is“ einzuschunkeln. Der Mann ist offen bis zur Schmerzgrenze, agiert mit geradezu klassischer Kultiviertheit und findet immer wieder zur Melodienseligkeit seiner südländischen Heimat, ohne auch nur in die Nähe eines tranigen Schmachtfetzens zu geraten. Präganter, als im schmerzlichen „My Funny Valentine“, der Pflichtübung jedes Jazztrompeters, können die Unterschiede zu den Kleingeistern der Nachahmung kaum zutage treten. Während etwa ein Chet Baker aus dem Stück ein tief depressives Spiegelbild menschlicher Schwächen formte, bläst es Enrico Rava heute fast wütend, schmerzerfüllt, ohne auch nur eine Spur dieser grenzenlosen Ohnmacht zu verbreiten.

Unter solch kraftvollen Fittichen beginnen selbst Nachwuchstalente zu wachsen. Michael Flügel, ein ideenreicher Melodiker mit vehementem Drive, perlendem Anschlag und hellem Sound, braucht nur die Herausforderung solcher Augenblicke, um selbst zu improvisatorischer Brillanz aufzulaufen, während der Altsaxofonist Frank Lauber einen klugen, trocken-sophisticaten Kontrapunkt dazu setzt.

Für den Drummer Dejan Terzic ist Rava dagegen ein Niveaupegel, an dem er sich von Anbeginn an orientiert und ihn nie unterschreitet. Polyrhythmisch komplexe Verschränkungen durchbrechen zwar permanent den Beat, potenzieren aber den Groove um ein Vielfaches und konservieren damit die geradezu sensationell zu nennende Spannung des Konzertes. Nicht bloß auf CD, sondern für mindestens genauso lange Zeit im Kopf.