Melissa Walker Quartet | 08.05.1998

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Markant drängt es sich wieder mal ins Bewußtsein, daß die Unterschiede zwischen der einen und der anderen Sängerin mitunter ganze Welten ausmachen können. Zu begründen ist so etwas nicht, höchstens zu erfühlen. Und es reduziert sich keinesfalls bloß auf die sattsam bekannte männliche Sicht der Dinge, wenn ein weibliches Wesen am Mikrophon einen verschütt gegangenen emotionalen Impuls auslöst.

Die eine singt ihre Texte herunter, Melissa Walker lebt sie. Kolleginnen tragen sauber vor, die junge Kanadierin inszeniert ihr Repertoire hingebungsvoll – und dabei wohl auch ein wenig sich selbst. Diese bewußt zur Schau getragene Feminität gehört zwar zum klassischen Bild der Jazzvokalistin. Das Gros der Chanteusen ließ die lasziv-geheimnisvolle Magie einer Billie Holiday oder einer Sarah Vaughan in den vergangenen Jahren jedoch zusehends ins billige Klischee absinken. Ausschnitt statt Ausstrahlung, Stretchmini statt Sensibilität, High-Heels statt hoher Kunst.

Melissa Walker weiß dagegen genau, wo die Grenze zwischen Anregung und Penetrierung liegt. Wie sie im Neuburger „Birdland“-Jazzclub in ihrem modischen, knallroten Abendkleid fast mädchenhaft auf einem Korbhocker Platz nimmt, wie sie ihr Kraushaar im Takt der Uptempo-Nummern hin- und herwiegt, wie sie die Texte ihrer delikaten Lovesongs zart mit den Händen nachformt – das besitzt etwas, was das sachkundige Publikum im Keller unter der Hofapotheke in dieser unmanirierten Natürlichkeit bislang höchst selten von einer Vertreterin der Zunft, ganz gleich ob jung oder alt, geboten bekam.

Schon bei der Auftakt-Nummer „I`m A Fool To Want You“ greift eine warme, heimelige Grundstimmung um sich. Die im amerikanischen New Jersey lebende Newcomerin meidet, ganz Anti-Diva, das glamouröse Ouevre mit Extraapplaus und weckt stattdessen lieber mit ihrer betörend dunkel timbrierenden, bombensicher intonierenden Stimme die Aufmerksamkeit. Mal gibt sie die Sanfte, dann die Körperreiche, mal kokettiert sie mit der Sentimentalität des Bossa Nova, dann kommt sie uns wieder aufrichtig melancholisch, öffnet ihre Seele dabei mehr als nur einen Spalt, und ahnt allenfalls, daß sie über die Strahlkraft eines Sternenschweifs verfügt.

Bei einfühlsamen Standards wie „A Time For Love“ oder „Miss Otis Regrets“ ist Melissa Walker gleichermaßen Liebhaberin, Mutter und verletztes Kind, im verqueren Monk-Medley mit dem süffigen „Ruby My Dear“ dann wieder ganz wagemutige, selbst vor Übergängen vom balladesken Schlendern in boppenden Galopp nicht zu stoppende Technikerin. Eine derart perfekte Symbiose zwischen Anspruch und Unterhaltung wäre ohne die Mannschaftsdienlichkeit des bestechenden Trios um Drummer Clarence Penn, Bassist James King und den brillanten Pianisten George Colligan, der sich immer deutlicher als einer der versiertesten Sängerinnen-Begleiter der aktuellen Jazzszene in den Vordergrund spielt, freilich schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt.

Und Melissa Walker begeistert – gerade wegen dieses Backgrounds – in Neuburg auf der ganzen Linie. Als Frau wie auch als Protagonistin einer neuen Generation von Jazzvokalistinnen, der es tatsächlich wieder zu gelingen scheint, echte Gefühle bei ihrer Hörerschaft zu wecken.