Matt Wilson Quartet | 08.10.1999

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Die Diskrepanz zwischen publikumsfeindlicher Avantgarde und zuhörerfreundlicher Moderne: nie trat sie offener zutage, als innerhalb einer Woche im Neuburger „Birdland“-Jazzclub. Zwei Bands mit nahezu identischer, pianoloser Besetzung und dennoch zwei grundverschiedene Welten – die Konzerte von Gebhard Ullmanns „Basement Research“ und nun dem Quartett des New Yorker Schlagzeugers Matt Wilson führten jedem klar vor Augen, wo die Vergangenheit endet und die Zukunft des Jazz beginnt.

Während bei Ullmann Töne umherschweben, die selbst den beteiligten Musikern mitunter noch fremd vorkommen, orientiert sich Wilson eng an den Bedürfnissen seiner Klientel, ohne dabei gleich in anbiedernde Unterwürfigkeit zu verfallen. Der 33jährige Rising Star, der mit den frischen Lorbeeren des amerikanischen „Best New Artist“ nach Europa kam, trägt jede Menge knallbunter, generationsüberschreitender Überraschungspfeile in seinem Köcher. Traditionalisten finden bei ihm ebenso Erbauliches, wie Freejazzer, Bluesfans macht ein Abend mit den vier frechen Burschen ebenso viel Spass, wie gestandenen Pop- oder Funkfreaks.

Die Lust am Extremen; sie obsiegt bei Matt Wilson immer wieder über all der kopflastigen Programmmusik. Der Mann entfleucht stets seinem engen Geviert aus Snare, Hi-Hat, Becken und Basstrommel, um den Klängen und Rhythmen dieser Zeit hinterherzujagen. Alles geschieht mit einem kaum verhohlenen Augenzwinkern, diesem seltenen und gerade deshalb so wohltuenden, fast befreienden Witz. Die Kapriziosen aus dem Skurrilitätenfundus des Drummers machen immer Laune – und ratlos zugleich.

Wirft uns dieser Bursche jetzt mitten in Ornette Colemans harmolodischen Irrgarten („Wooden Eye“), schickt er uns auf Monks Bebop-Party („Boo Boo´s Birthday“) oder gleich in Orffs Schreckenskabinett („A Dusting Of Snow“), verhohnepiepelt er Frankie-Boy („Strangers In The Night“) oder gar das gesamte Rockbusiness (herrlich slapstickartig: Wilson in „Schoolboy Thug“ mit Langhaarperücke, die blasierten Attitüden der notorischen Krachmacher nachahmend), lässt er Duke Ellington im Mördergroove durch dessen „Far East Suite“ tapsen? Seine Darbietung strotzt nur so vor Gemein- und Anzüglichkeiten, vor Banal- und Genialitäten.

In der Band findet er ausschließlich Gleichgesinnte. Der Tenorsaxofonist Joel Frahm mit seiner durchdachten, fast malerischen Struktur und der Bassklarinettist und Altsaxofonist Andrew D`Angelo mit seinem expressiven Überschwang lassen ungewöhnliche Melodielandschaften entstehen, während Yosuke Inoue am Bass die Konsistenz seiner Linien von federleicht-swingend über bleischwer-fragmentierend bis hin zum völlig ekstatischen Schrammeln variiert.

Ein Kollektiv formt mit wenigen Mitteln lauter kleine Meisterwerke voller Selbstironie, die in der aalglatten Mainstream-Landschaft auffallen, wie eine Warze auf Claudia Schiffers Nase. Matt Wilsons pastellfarbene, liedhafte Drumfiguren prägen den Sound, ohne ihn zu verbiegen. Sie heben die Instrumente markanter als in jedem anderen Ensemble hervor, weil es nur vereinbarte Stimmungen, aber keine vereinbarten Noten gibt. Alles fließt. Weil ein Schlagzeuger es so will.