Sicher, der Vergleich hinkt mächtig. Ray Charles stammte aus Albany/Georgia, war schwarz, blind, Draufgänger, Frauenheld, Trunkenbold und Junkie. Und er war ein Genie, das sämtliche Fundamente der bluesgrundierten Popmusik in den Boden rammte, auf die andere später ein Königreich bauen konnten.
Martin Schmitt kommt aus München/Bayern, ist weiß, sieht alles, lebt in geordneten ehelichen Verhältnissen, kann mit Flasche und Spritze eigentlich nichts anfangen und vertauscht das Genialische lieber mit dem Bodenständigen. Dennoch gibt es zwischen dem im Juni verstorbenen amerikanischen Superstar und dem deutschen Pianisten mehr Parallelen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Nicht etwa, weil Schmitt die Songs seines großen Idols beim Konzert im ausverkauften Ingolstädter Audi Form nachspielt; das tun viele und mitunter sogar ziemlich schlecht.
Der 37-Jährige trifft vielmehr als einer der wenigen diesen typischen, unverwechselbaren Ray-Charles-Spirit: In jeder Viertelnote etwas Verruchtes, das Rufen, Flehen, Röcheln, Schluchzen. Blues, Cooljazz, Country, Soul – bei Schmitt fragt irgendwann auch keiner mehr, welcher Stilrichtung nun dieser Titel zuzuordnen ist. Musik eben. Klasse Musik. Und ein klasse Pianist mit einem wieselflinken Händchen und einer durchdringenden Stimme, tief im Blues geerdet, die sich aber auch in Höhen versteigt, die abwechselnd oder eben zugleich erschreckt oder entzückt. Schmerz, Wolllust, feine Ironie oder gellendes Lachen ist bei Martin Schmitt eins – wie ehedem bei Ray Charles.
Und alle, die 1993 und zuletzt 2001 bei den Ingolstädter Jazztagen Zeuge waren, wissen um die grandiosen Entertainer-Qualitäten der Ikone. Schmitt macht das anders, aber mindestens genauso effektiv. Bayerisch eben. Die ersten Textzeilen von „Hey good Lookin`“ übersetzt er mit „Hey, du Gutaussehende, soll ma net was miteinander kochen?“ und gleichzeitig munter honkend in die gepfefferte Sprache des Jazz´n´Boggie. „No use crying“ sei angeblich der bayerischen SPD gewidmet, kalauert er, und bei „Black Jack“, einem schlurfenden, lasziven Slow-Blues, schiebt der Mann am Klavier geschickt den „Schwarzen Beda“ denen zu, die die feine Schmittsche Eigendynamik weder hören noch fühlen können.
Das wäre an diesem entspannten, fast ausgelassenen Abend aber wirklich eine Kunst. Ob in diabolischen Schussfahrten am Piano bei „Hide my Hair“ mit halsbrecherischen Läufen, Stomps und literweise Schweiß, oder dem herrlich ineinander greifenden, fetten, bläserlastigen Sound des vorzüglichen Oktetts – alles transportiert den Geist Ray Charles`, für den Musik immer nur drei Dinge waren: reden, denken, atmen.
Die Freunde, mit denen Martin Schmitt dem Haudegen huldigt, potenzieren diese Leitmotive virtuos. Gitarrist Titus Vollmer schraubt seine Gitarre aus einem spartanischen Nichts immer wieder in atemberaubende Blueshöhen empor, „Hallelujah I just love her so“ blitzt dank des Arrangements von Drummer Stephan Eppinger wie ein Straßenkreuzer in Chrom auf der Fahrt durch Bel Air, während die Hank-Williams-Schindmähre „O lonesome me“ urplötzlich wie ein pumperlg`sundes Bebop-Rennpferd dahergaloppiert. Bassist Sava Medan und Eppinger liefern eine gelungene Standup-Comedy, wenn sie gemeinsam einen Bass bedienen, Baritonsax-Erotiker Bob Rückerl lässt süßen, dicken Soul („Don`t set me free“) fließen, bis der leise, intensive Höhepunkt „Georgia in my Mind“, nur mit Schmitt und dem wunderbaren Stephan Holstein an der Klarinette, fast Stecknadelstille erzeugt.
Natürlich gibt es noch genügend Futter für die Unersättlichen: Ein aufgekratztes „Hit the Road Jack“ und „Two Tom Tassy“ als Zugaben. Martin Schmitt genießt die Ovationen in vollen Zügen. Weil die Leute in ihm längst keine Reinkarnation mehr sehen, sondern einen eigenständigen Künstler. Eine Allegorie lässt sich bei so viel Gemeinsamkeiten aber doch nicht ganz verscheuchen: Vielleicht passt ja das Bild vom unehelichen Sohn? Doch – das hätte Ray Charles auch gefallen.