Es gab eine Zeit vor etwas mehr als drei Jahren, da gestand Martial Solal ohne eine Spur von Überheblichkeit in der Stimme, nicht mehr zu üben. Er, der technisch vollkommenste Pianist des Jazz, um den das amerikanische Mutterland des Swing uns Europäer schon seit langem heimlich beneidet, legte seine Finger nur noch bei Konzerten auf die Tasten. „Sie führen inzwischen ein Eigenleben, ich kann ihnen nichts mehr beibringen,“ sagte Monsieur Solal damals und hinterließ einen bass erstaunten Gesprächspartner.
Jetzt, bei seinem Debüt im Neuburger „Birdland“-Jazzclub, ist das alles Geschwätz von gestern. „Wie töricht! Ich habe damals aufgehört, mich zu entwickeln,“ beichtet der 75-Jährige aus dem Pariser Vorort Chatou kleinlaut. Alles den Fingern zu überlassen, sei ein verhängnisvoller Trugschluss gewesen. „Vor allem der Kopf will gefordert sein“. Aus den Worten des kleinen, unscheinbaren Genies klingt die feste Überzeugung, den selben Fehler auf keinen Fall ein zweites Mal begehen zu wollen. „Deshalb übe ich wieder. 24 Stunden hat der Tag, sechs braucht man zum Schlafen, sechs bis acht für andere Dinge. Der Rest gehört dem Klavier.“
So verblüffend diese radikale Einsicht auch erscheinen mag, so plausibel erklärt sie das zuvor in 100 Minuten Gebotene. Ein schier unglaubliches Konglomerat aus Verspielt- und Versponnenheit, Ideenreichtum, Humor, verblüffenden Wendungen und simplen Endungen, Heiterem, Grübelndem, Subtilität, Technik, Experimentierlust, aus üppigen, wohlgenährten Akkorden, sperrigen Synkopen, retardierenden Patterns und nervösen Läufen.
Solals Territorium ist die Schnittstelle zwischen dem Jazz alter und der Klassik neuerer Prägung. Ein Niemandsland voller Dornen, kantiger Steine und giftiger Dämpfe, durch das sich der Tastengallier mit der sympathischen Knollennase leicht, locker, pfeifend bewegt. Kein Pfeifen im Walde. Der Mann wählt den unbequemen Weg der Verfremdung im Vertrauten. Er verwandelt stinknormale Standards wie „Willow weep for me“ oder „Tea for two“ in völlig neue Songs, die scheinbar erst für den „Birdland“-Event geschrieben wurden, in permanente Feuertaufen für sich und das Publikum. Er segelt über Wasserfälle, Vulkane, Schluchten, vom Polarkreis zur Sahara in einem einzigen Takt und mit dem zweiten wieder zurück.
Martial Solal und seine kongenialen Triopartner Mads Vinding (Bass) und John Riley (Drums) modellieren mächtige Suiten, atemberaubende Ritte durch verschiedene Tempodimensionen und Harmonielandschaften. Sie achten und folgen einander punktgenau selbst in blitzartigen Sprints. Ein ständiges Jagen, Fordern, sich gegenseitig in Frage stellen und wieder auf die Beine helfen. Manchmal ist es schon mehr als nur Jazz, was einen da von der Bühne her überrollt: Die hohe Schule des kalkulierten Risikos, das souveräne Privileg der freien Konversation.
Eine Sternstunde, die sogar Julian Benedikt, der Regisseur des Oscar nominierten „Blue Note“-Filmes, in weiser Vorahnung mit der Kamera festhielt. Eigentlich gedacht für ein Portrait des verstorbenen ungarischen Gitarristen Attila Zoller, Solals einstigem „Partner in Crime“. Doch vielleicht wird sogar mehr draus.
„Wir müssen etwas machen, er war noch nie so gut!“, sprudelt es aus dem 72- jährigen Sepp Werkmeister, dem Münchner Nestor der Jazzfotografie heraus, der sich eigens auf den Weg nach Neuburg gemacht hat, um seinem Idol aus alten Domicile-Zeiten zu begegnen. „Ça va“, wischt Martial Solal all die Komplimente verlegen mit einer Handbewegung beiseite. „Ich übe nur wieder.“