Mal Waldron – Nachruf | 12.02.2002

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Schlohweißes Haar, 15 Zentimeter dampfende Zigarillo, rotkariertes Sakko, ein alles durchbohrender Blick – so betrat der letzte noch lebende Schamane des Bebop im März 1996 die Bühne des Neuburger „Birdlands“. Im Oktober 1989 fiel ihm mitten unter seinem Vortrag bei den Ingolstädter Jazztagen im Foyer des Theaters sogar die Asche auf die Klaviatur. Doch Mal Waldron störte dies nicht im geringsten. Er spielte einfach weiter; stoisch, unbeirrbar, hypnotisch, brillant.

Schon die bloße Aura des Mannes, der zum modernen Jazz gehörte, wie der Eifelturm zu Paris, konnte gefangennehmen. Aber vor allem die Darbietung des großen amerikanischen Pianisten untermauerte den tiefen Eindruck von einem zurückhaltenden wie allgegenwärtigen Menschen, der im Laufe seiner langen, bewegten Karriere ein bedeutendes Musikkapitel mit formulierte.

Mal Waldron besaß viele Gesichter. Alle passten sie auf wundersame Weise zueinander und prägten das Gesamtbild eines offenen, ausgeglichenen Künstlers, der niemals im Glashaus einer kurzlebigen Mode sitzen wollte. In den späten Fünfzigern etablierte er sich auf 200 Platten als Hauspianist der Plattenfirma „Prestige“, koordinierte Sessions mit John Coltrane und Eric Dolphy und saß als Letzter auf dem Klavierstuhl von Billie Holidays, jener tragischen und überreich talentierten Jazzvokalistin. Dazu kam wie selbstverständlich die tiefe musikalische Freundschaft zur ältesten deutschen Krautrockgruppe „Embryo“ (deren Wurzeln in Wirklichkeit viel näher beim Jazz liegen, als gemeinhin vermutet).

1969 eröffnete er mit seinem phänomenalen Trioalbum „Free at last“ die Ära des bekannten Plattenlabels ECM und 1971 mit „Black Glory“ gleich noch die es Münchner Lokalkonkurrenten Enja. Sein Soundtrack für die Kinofilme „Drei Zimmer in Manhattan“ (1965) ist ebenso legendär wie sein drogenbedingter Nervenzusammenbruch 1963, seine Exkurse in die dunkel-geniale Welt des Charles Mingus („Pithecanthropus Erectus“) oder seine Balladen-Höhenflüge mit Jim Pepper, Steve Lacy oder Archie Shepp.

Gerade mit den beiden Letztgenannten spielte Waldron noch im Sommer zwei Alben von geradezu entwaffender Schönheit ein. Im Falle von Lacy trägt es den schon visionären Titel „One more Time“ (Sketch). Mit Saxofon-Altmeister Archie Shepp enthüllte er in „Left alone revisited“ (Enja) schlussendlich seine heimliche Liebe zur unvergessenen Lady Day (Billie Holiday). Dabei demonstrierte der feingeistige Gentleman ein letztes Mal, warum seine Stilistik inzwischen als unverrückbarer Maßstab für Jüngere, als Brücke zwischen Tradition und Innovation gilt.

Denn immer wenn der Eigenbrödler im Elfenbeinturm seine mit Ringen geschmückten Finger in die Tasten legte, wuchs ein eigener Zauber aus rhythmisch-melodischen Kürzeln, sich ständig wiederholenden Figuren, melodischen Minimalmotiven daraus empor, die unerreichte „Power of Repetition“. Mal Waldron, der als einziger auf dem Piano Morsebotschaften vom bleibendem Erinnerungswert verschicken konnte, erlag am Montag im Alter von 77 Jahren in seiner Wahlheimat Brüssel einem erst im September diagnostizierten Krebsleiden.