Maciej Obara Quartet | 07.05.2022

Donaukurier | Karl Leitner
 

Die blaue Stunde ist die Zeit zwischen Sonnenuntergang und dem Einbrechen der Nacht, zwischen gleißender Helligkeit und einsetzender Dämmerung, die Zeit der Schatten, in der die Welt zur Ruhe kommt und man selber zum Nachdenken. Das Phänomen, mit dem sich die Malerei und die Fotografie gleichermaßen auseinandersetzen, kommt einem fast zwangsläufig in den Sinn, wenn man die Musik des Maciej Obara Quartets im Birdland Jazzclub hört.

Unheilverkündend, unheimlich, zartfühlend, sensibel. Anmutige Schönheit und kantiger Purismus in unmittelbarer Nachbarschaft. Sich plötzlich öffnende akustische Räume und Hallen, dann wieder Minimalismus. Vorsichtiges Tasten hinein in neue Welten, dann ungestümes Drauflosstürmen. Verwehte Sounds und aufgetürmte Klanggebirge. Die Band schnüffelt suchend im Gelände, irrlichtert in der Schattenwelt herum, schwingt sich auf den plötzlich einsetzenden Beat, groovt sich ein. Einerseits lange Kameraeinstellungen, Schwebezustände, dann plötzlich rasante Schnitte. Und zum Schluss endet alles in einer Art Rauschzustand, mit einem orgiastischen Finale.

Die polnisch-norwegische Band mit Maciej Obara am Tenorsaxopfon, Dominik Wania am Flügel, Gard Nilssen am Schlagzeug und Ole Morten Vågen am Kontrabass sorgt mit ihrer Musik, einer Art Modern Jazz mit Spuren aus Free und Avantgarde, für ein überaus intensives Hörerlebnis, wie man es wahrlich nicht alle Tage geboten bekommt, in denen die Zustände der Trance und der Ekstase erstaunlich nah beieinander liegen. Ein unermüdlich wühlender Bassist, die dichten, wie aus dem Handgelenk gezauberten Teppiche des Schlagzeugers, der herrlich korrespondierende Pianist und schließlich Obamas, in der Band Thomasz Stako’s gereifte Ton, der die Bilder in den Köpfen des Zuhörers entwirft, weiterentwickelt, verfeinert, ornamentiert, schattiert.

Es gibt in sich geschlossene Stücke, betitelt mit „Rainbow Leaves“, „Dry Mountain“ oder „Frozen Silence“, aber sie werden – wie einst bei der Formation Grünen an gleicher Stelle – zusammengezogen zu zwei etwa 50-minütigen Blöcken, um den Flow, die Assoziationen nicht abreißen zu lassen. So kann man sich besser in die Musik versenken, abtauchen, sich entführen lassen in diese eigenartige klangliche Zwischenwelt, wozu das Publikum im Birdland gerne bereit ist. Es ist nicht der Abend des Zwischenapplauses, nicht der Abend vordergründiger Ausgelassenheit, kein Abend, an dem auf irgendeine Weise das Publikum bespaßt wird, auch keiner, um Virtuosität zu bestaunen. Durchaus aber einer, um sich ver- und entführen zu lassen, der Stimmung nachzugeben, die man für sich erlebt, und zwar einzig und allein dadurch, dass man anwesend ist, sich öffnet, zuhört und die Musik auf sich wirken lässt.

Wenn der derzeit fast inflationär gebrauchte Begriff der Nachhaltigkeit auch für Jazzkonzerte anwendbar ist, dann ganz gewiss für dieses ganz spezielle im Birdland. – Beim Nachhausefahren nach dem Konzert noch das Autoradio andrehen? Unmöglich. Nicht nach dem soeben Erlebten.