Die amerikanische Pianisten Lynne Arriale hat nicht nur als Musikerin und Komponistin eine Ausnahmestellung im Jazz inne, sondern auch als politisch denkender Mensch mit unumstößlicher Haltung, die sie regelmäßig auf den Bühnen der Welt äußert. So auch auf der des ausverkauften Birdland Jazzclubs in Neuburg.
Jedes Stück dieses Abends hat eine Botschaft und steht für einen Aspekt ihres Plädoyers für mehr Menschlichkeit. „Journey“ etwa beschäftigt sich mit der Frage, wie es sich anfühlt, auf der falschen Seite der Grenzmauer zwischen Texas und Mexiko zu stehen, „March On“ ist all jenen gewidmet, die gewaltlos auf der Straße protestieren, „Heroes“ all den kleinen Helden des Alltags, denen wir während der Pandemie Beifall gezollt haben, um sie nachher wieder zu vergessen. Die harte Realität ist ihr Thema, der Verlust von Wahrheit und politischer Glaubwürdigkeit in „The Whole Truth“, ihr politische zerrissenes Heimatland in „The Lights Are Always On“. Und mit „Notorious RBG“ wird sie ganz konkret, wenn sie der Richterin am Supreme Court und Frauenrechtlerin Ruth Bader Ginsburg ein akustisches Denkmal setzt. „The Lights Are Always On“ ist zugleich der Titel ihres aktuellen Albums und sagt im Grunde alles. Lynne Arriale stellt in übertragenem Sinne ein Licht ins Fenster, weist den Heimatlosen den Weg dorthin, wo ihnen Trost gespendet wird, wo sie Aufnahme finden, ihnen Menschlichkeit entgegen gebracht wird.
Im Grunde wären die Stücke, die sie zusammen mit ihren Begleitern, Jasper Somsen am Kontrabass und Lucasz Zyta am Schlagzeug, einem atemlos lauschenden Publikum zu Gehör bringt, Protestsongs, hätten sie denn einen Text. Nachdem sie den aber nicht haben, bedarf es folglich eines anderen Weges, um den eigentlichen Anlass für ihre Entstehung deutlich zu machen. Und so stellt Arriale der harten Realität als Alternative ihren subtilen Anschlag gegenüber, widerspricht dem globalen Hass mit wunderschönen Melodien, bietet entspannt fließende Grooves als Gegenentwurf für Kriegstreiberei und versieht ihre neuen, noch nicht veröffentlichten Stücke mit Titeln wie „Passion“, „Persistance“, „Joy“ und schließlich „Love“, mit Aspekten also, die Menschen erst zu Menschen macht.
Ja, Lynne Arriale spielt „schöne“ Musik an diesem Abend, aber ihr Aufritt hat dennoch nichts Idyllisches an sich. Sie gibt ein warmherziges Konzert, sorgt für eine optimistische Grundstimmung, die jedoch die oft alles andere als gemütliche Wahrheit draußen vor der Tür nie außer Acht lässt. Sie trifft damit exakt den Nerv des Publikums, das genau spürt, dass nicht Naivität, Blauäugigkeit und das Ausblenden der Realität die Auslöser dieser Kompositionen sind, sondern der Versuch, den sicherlich mühsamen aber doch alternativlosen Weg der Humanität aufzuzeigen. Dass sie niemals müde wird, mit ihren musikalischen Mitteln die Werbetrommel zu rühren für die Verteidigung demokratischer Grundwerte gehört ebenso zu ihrem Selbstverständnis wie ihre Virtuosität als Pianistin, ihre souveräne Gelassenheit und ihre herzliche Art als Performerin. Angesichts all der globalen Wirrnisse sind Konzerte wie dieses mit zeitloser Musik in unruhigen Zeiten in der Tat ein Geschenk.