Zuerst hätte das Konzert um ein Haar nicht stattgefunden. Und dann wohnt man quasi der Geburt eines neuen musikalischen Genres bei. Ja, es finden in der Tat höchst bemerkenswerte Dinge statt an diesem Abend in Neuburg, dem vorletzten des 11. Birdland Radio Jazz Festivals.
Was tun, wenn wenige Stunden vor dem Auftritt das Gehäuse eines Bandoneons zu Bruch geht, dem Instrument, um das sich das ganze Konzert dreht? Absagen? Nein. Ein Spezialist muss her. Im sächsischen Klingenthal gibt es einen, der wird geholt, bringt die Sache rechtzeitig in Ordnung und hat für alle Fälle sogar ein Ersatzinstrument dabei. Gute Kontakte sind in der Konzertbranche das A und O. Der Retter in der Not sitzt dann auch in der ersten Reihe, als Louise Jallu vermittels dieser argentinischen Variante des Knopf-Akkordeons den Tango Nuevo des großen Astor Piazolla weiterentwickelt zu einer Art „Tango Nuevo Plus“, einer bislang so vermutlich nirgends zu hörenden Form von Musik, die sich teilweise dermaßen weit entfernt von dem, was man angesichts Piazollas derzeit weltweit gefeierten 100. Geburtstag allenthalben hört, dass man – ja, es mag vermessen klingen – von der Geburt eines neues Genres sprechen könnte.
Louise Jallu, Alexandre Perrot am Kontrabass, Grégoire Letouvet am Flügel und am Fender Rhodes sowie Karsten Hochapfel an der Gitarre und am Cello konzentrieren sich auf die konzertante Variante des Tango. Das tat Piazolla auch, bei Jallu aber kommt etwas Visionäres dazu, der Drang, das Genre zu öffnen für Experimente jeglicher Couleur. „In Argentinien kann sich alles verändern, nur der Tango nicht“, sagte Piazolla einst. „Ich verändere ihn trotzdem“, setzt Jallu dagegen. Die Musik, die dabei entsteht, kommt auf Samtpfoten daher und in Springerstiefeln, ist lieblich und brüsk, feinfühlig und aggressiv, verspielt und kompromisslos, intim und drängend, minimalistisch und opulent. „Ich mag Musik, die zum Nachdenken anregt“, sagte Piazolla. Da kann Jallu uneingeschränkt zustimmen. Ihr geht es in erster Linie nicht um solistische Höchstleistungen, sondern um die wagemutige und zugleich spielerische Veränderung so geschichtsträchtiger Stücke wie „Adios Nonino“ und „Libertango“ und somit einer kompletten musikalischen Richtung. Ob das Ergebnis überhaupt noch Tango genannt werden kann, ist egal.
Überraschend ist, dass auf den ersten Blick unvereinbare Elemente perfekt zueinander passen. Die elektrische verzerrte Grunge-Gitarre zu den weichen Basslinien, eine Slide Guitar zum Bandoneon, der Sound des Fender Rhodes zum Klang der Handdrehorgel mit Lochstreifen, Jazz-Einsprengsel zu ausufernden, scheinbar zu Selbstläufern werdenden Mittelteilen, wie man sie aus dem experimentellen Rock der Siebziger kennt. Solche Musik gelingt nur, wenn man auf Innovation und Wagemut setzt und auf Verkaufszahlen pfeift. Und sie wirkt am besten, wenn man live bei deren Entstehung an einem denkwürdigen Abend wie diesem dabei ist. Was für ein Konzert! – Ach ja: Das Gehäuse des Bandoneons hat übrigens bis zum Ende keinerlei Probleme mehr bereitet.