Lonnie Plaxico Band | 11.01.2002

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Der Mann am Bass hat die Faxen dicke. Ständig anderen den Jazz-Marsch, Blues oder Bop zupfen, immer nur wie das Pendel einer Wanduhr ticken, ein klobiges Stück Holz festzuhalten und höchstens mal bei einem Solo wahrgenommen werden. Deshalb hat sich Lonnie Plaxico auch ein schlankes, elektrisches Plastikteil mit Steg gekauft und wummert jetzt dominant alles zu. Revanche geglückt.

Solche Gedanken schießen einem nach dem ersten Titel des 40-jährigen Tieftöners im Neuburger „Birdland“-Jazzclub zwangsläufig durch den Kopf. „Short Takes“ kommt als donnernde, schmerzende Bass-Blubber-Orgie daher, bei der sich das Piano gar nicht, die Bläser allenfalls partiell, der Wunderknabe an den vier Saiten dafür um so nachhaltiger Gehör verschaffen können. Doch wie meist, wenn Elektrisches mit der organischen Akustik des Kellers unter der Hofapotheke kollidiert, ist das alles bloß eine Frage des (vorher offenbar nur oberflächlich gecheckten) Sounds. Plaxico begreift und dosiert schnell. Stück für Stück lichten sich die giftigen Lärmnebel und geben den Blick auf eine musikalische Vision frei, wie sie in dieser komprimierten Vielfalt allenfalls in seinem Kopf entstehen kann.

Der Mann und seine vier kongenialen Mitstreiter lassen einen faszinierenden Multikulturmix vor dem geistigen Auge Gestalt annehmen. Wannabeboppers in Armani-Anzügen. M-Base-Revolutionäre in schlabbrigen Sweatern. Partyhengste, die sich Mingus als Muse auserkoren haben. Straßenpoeten mit einem One-Way-Ticket in der Hosentasche. Junge, unheimlich coole Orgeltrios. Alte, abgebrühte Jamsession-Veteranen. Die Fünf mischen Rhythmen aus fremden Ländern, Harmonien aus vertrauten Songbüchern. Ein neuer Groove, eine virtuose Mélange.

So lautet auch der Name des mit Abstand spannendsten Stückes unmittelbar vor der Pause. Ein glutroter Brocken funkig-jazziger Magma, siedend heiß, urgewaltig, unbeirrbar, Schneisen brechend, alles niederwalzend, und natürlich von Lonnie Plaxico komponiert, wie nahezu alle Titel dieses für „Birdland“-Verhältnisse höchst unkonventionellen, am Ende frenetisch (auch ein bisschen jazz-untypisch) bejubelten Abends. Des Leaders schneller, Hornhaut gestählter Daumen zuckt, dass der selige Jaco Pastorius seine helle Freude daran gehabt hätte. Derweil entreißt Saxofonist Marcus Strickland dem Soprano gläserne, fiebrige Klänge, während der grandiose Trompeter Jeremy Pelt mit einem Ton wie ein Bergmassiv demonstriert, dass 130 Kilo Lebendgewicht und atemberaubende Beweglichkeit sich keinesfalls ausschließen müssen.

„Squib Cakes“ ist ein dickflüssiges Soulsüppchen mit blubbernden Hammond-Fettaugen aus der Rezeptur des früheren Piano-Schöngeists George Colligan, die wegen ihrer schrillen Aufdringlichkeit auf Anhieb kaum zum Genuss einlädt, mit jedem Löffel jedoch köstlicher mundet. In „Darkness“ zeigt die hippelige Band, dass sie auch segeln kann, getragen von den weiten Schwingen aus Pelts muskulöser Trompete und Stricklands sehnigem Sax. „Windy City“ mit zischenden Beats von Drummer Lionel Cordew dagegen skizziert Plaxicos Heimatstadt Chicago: rotzig, dreckig, ungeschminkt.

Der Bassist, der einst Dexter Gordon, Chet Baker, Wynton Marsalis oder George Coleman begleitete und für die Jazz-Diva Cassandra Wilson sogar als „Musical Director“ fungiert, transformiert einfach den Sound der Großstadt in Noten. Hektisch, pulsierend, rumorend wie eine Tag-und-Nacht-Baustelle – alles Chicago!