Lionel Loueke – Guitar Solo | 03.02.2023

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Es begab sich 1991, der Jazz war gerade erst in den Hofapothekenkeller eingezogen und für viele noch ein unbekanntes Mysterium voller Rätsel, da kam einer aus Amerika nach Neuburg, der das Brandzeichen „Weltklasse“ trug, Gitarre spielte, sich ganz allein auf die Bühne setzte und einfach zu spielen begann. Nicht gerade die halbe Stadt, aber doch eine ziemlich große Menge Menschen war neugierig und drängte ins Gewölbe, um den Jazzstar zu sehen und zu hören, auch weil er als damaliger Sideman von Oscar Peterson über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügte. Joe Pass – so viel steht fest – bestritt das Konzert mit dem bis heute größten Publikumszuspruch in der Kellerära des Clubs. Ein Gitarrist ohne Begleitung. Und ein Meilenstein.

Fast genau 32 Jahre später sitzt wieder ein Gitarrist alleine auf der Bühne des Birdland Jazzclubs und verzaubert die Fans im abermals ausverkauften, wenn auch nicht mehr ganz so drangvoll engen Hofapothekenkeller, mit seinen Grifffolgen, seiner unglaublichen Technik und seinem frappierenden Charme. Doch die Unterschiede zwischen gestern und heute könnten größer nicht sein. Vielleicht ist das Instrument, nämlich eine halbakustische Framworks-Gitarre, ähnlich, natürlich auch das Prädikat „Weltklasse“. Aber Lionel Loueke stammt aus dem westafrikanischen Benin, wuchs an der Elfenbeinküste auf, studierte in Paris und am Berklee College in Boston und lebt heute in Luxemburg. In Neuburg präsentiert er kein „normales“ Gitarrenprogramm, sondern seine persönliche Lesart der Songs seines großen Förderers und väterlichen Freundes, des legendären Pianisten Herbie Hancock, in dessen Band er seit 2010 spielt.

Dass Loueke völlig anders spielt als weiland Pass – geschenkt! Dass er aber die Saiten seiner Gitarre komplett anders bedient, als jeder andere Saitenkollege, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Grund für das immense Interesse. Der 49-Jährige erzeugt einen völlig neuen Lebensraum für die bis dato unantastbaren Kompositionen Hancocks, entschleunigt sie, verhüllt sie und kleidet Songs wie „Actual Proof“, „Dolphin Dance“, „Hang Up Your Hang Ups“ oder „Tell Me A Bedtime Story“ in eine neue Tonart. Manchmal wirkt es so, als säßen dort oben zwei Gitarristen; doch nur Lionel Loueke zupft mit Ring- und Mittelfinger die (abgewandelte) Melodie, während sein Daumen für einen kräftigen Bass-Puls sorgt. Dank dieser extravaganten, phänomenalen Technik kann er westafrikanische Elemente mit den typischen Highlife-Gitarrenmotiven und den perkussiven vokalen Klick-Lauten mit einem lyrischen Improvisationsjazz überkreuzen, alles simultan, ohne Effektgeräte. Fantastisch!

In Neuburg kehrt Loueke mit seinem „HH“-Programm einfach die Rollen um. In Hancocks Band steuert er eine inzwischen unverzichtbare Farbe im zweifelhaften Fusion-Overkill des Meisters bei, jetzt liefern Herbies Kompositionen die Grundierung von Louekes völlig unprätentiösem, ruhigem und umso ausdrucksvollerem Spiel. Eigentlich totgespielten Nummern wie dem Hiphop-Elektro-Chartbuster „Rockit“ haucht er so neues Leben ein. Selbst „Cantaloupe Island“ erklingt ebenso überraschend wie bezaubernd in einem völlig eigenen, ruhigen Flow zwischen Funk und Afrobeat. Eine Lehrstunde in Sachen künstlerischer Identität und respektvollem Umgang mit Vorbildern, die Lionel, der Große, am Schluss vor zwei heftig erklatschten Zugaben auch noch um eine ehrliche Dankesadresse an den Birdland Jazzclub erweitert. Dass er nebenbei auch noch seine Neudeutung des Gitarrenspiels just an dem Platz zelebriert, den Joe Pass 1991 nutzte, um die Neuburger mit seiner Fingergeläufigkeit in den Bann zu schlagen, ist durchaus ein Fingerzeig. Gitarristen stehen nun mal für wunderbare Abende!