Gefühlt das einhundertste Mal Lee Konitz. Und dennoch klingt jedes Konzert im Neuburger Birdland-Jazzclub auf verblüffende Weise anders, so als würde man die gesamte Geschichte des Jazz einfach auf Null stellen und noch einmal ganz von vorne beginnen. 86 Jahre Lebenserfahrung wehen durch den Trichter des Altsaxofons. Nur bei ihm spiegelt dieses Alter die ganze Erhabenheit, die Eigenständigkeit und den Stolz des Jazz wider.
Auch diesmal haben die treuen Konitz-Fans den Keller unter der Hofapotheke, wo er zu allen Zeiten gern gesehen und gehört wurde, restlos ausverkauft. Man weiß ja nie, ob und wann man ihn wieder zu Gesicht und seinen Ton wieder zu Ohren bekommt. Und was für ein Ton! Gut abgehangen wäre stark untertrieben. Schrundig, voller individueller Kanten, Narben und Scharten, und dennoch zart, hauchdünn, durchsichtig. Gezeichnet von einem ganzen Leben und seinen Unwägbarkeiten. Die Gedanken eines weisen Mannes, der von Jahr zu Jahr gelassener auf die Welt blickt. Und der, ohne die Stimme zu erheben, die Aufmerksamkeit so sehr auf sich richtet, dass es nur noch darauf ankommt, einen Hintergrund zu finden, vor dem er am besten zum Leuchten kommt.
Lee Konitz ist der Architekt des Jazz. Ein Säulenheiliger, der nach wie vor quicklebendig unter den Lebenden weilt, der vor sechs Jahrzehnten mit Lennie Tristano in Chicago neue Improvisationstechniken ersann und sich in New York als eine der prägenden Stimmen von Miles Davis Capitol Orchestra ins Geschichtsbuch eintrug. Nun sitzt er auf seinem Stuhl neben dem Trio des Pianisten Walter Lang und blödelt. Überrascht mit launigen Anmerkungen, genießt die Verblüffung seiner jungen Mitmusiker, wenn er plötzlich ein ganz anderes Stück als vereinbart aufruft, singt einfach in sein Saxofon-Mikro, so als hätte er vergessen, sein Horn zum Mund zu führen. Er fühlt sich wohl. Und zeigt jedem: Alter ist keine Barriere. Warum sollte es auch? Das Langzeitgedächtnis birgt einen immensen Fundus an noch ungespielten Läufen. Nichts wiederholt sich. Ich spiele, also bin ich!
Sich nur von der Intuition leiten lassen. Die Standards des Great American Songbook gehören längst zum genetischen Code seiner Musik. So selbstverständlich, dass sich Konitz, Lang, der delikat geschmeidige Bassist Thomas Markusson und der fein dosierende Drummer Sebastian Merk nach Belieben von ihnen entfernen und sich auf verschlungensten Wegen wieder annähern können. Das Resultat ist ein Idealbild von Jazz: vier Musiker, die ihre Routinen eingemottet haben, die einander zuhören, aufeinander reagieren und im Prozess des Spiels immer wieder andere Perspektiven einnehmen, aus denen das vertraute Material plötzlich unvertraut und neu wirkt.
Invitation, All The Things You Are, das wunderbare Weaver Of Dreams oder das schlängelnde Cherokee: Jedes dieser Themen erweckt den Anschein, als wäre es exakt für diesen Abend komponiert worden. Auch wenn Konitz` manche Töne nicht mehr so passgenau trifft wie noch vor zehn, 20 Jahren, versteht er es nach wie vor mit seinem messerscharfen Ansatz, jede Melodie an Stellen zu präparieren, die keiner auf der Rechnung hat.
Bass, Klavier und Schlagzeug legen eine wärmende Decke um ihn, einen Puls, eine Gegenstimme, ein tonales Fundament. Es sind Musiker, die den Swing drehen, ihn ausbremsen, begradigen oder antreiben, um ihn mit dem Atem des Publikums zu synchronisieren. Vor allem Walter Lang spielt nicht einfach nur sein Ding herunter. Er beugt sich zu seinem väterlichen Freund hinüber, verschränkt sich in ihm. Alles vergeht und entsteht, in einem organischen Prozess, manchmal fast träge fließend und dann wieder quicklebendig sprudelnd.
Am Schluss nimmt Lee Konitz einfach nur sein Horn, lacht und geht, während die drei eine vielumjubelte Zugabe spielen. Das gefühlte einhundertste Konzert war vielleicht nicht das perfekteste, aber mit Abstand das schönste und wichtigste. Ein bewegender Abend!