Lee Konitz – Kenny Wheeler Quartet | 04.12.1999

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Vier Individualisten, ein Ziel. Jeder beginnt – völlig unorthodox – mit einem Solo. Der Monostruktur des klassischen Jazz unverblümt die Stirn bietend, laufen vier instrumentale Handlungsstränge nebeneinander. Sie strömen durch unterschiedliche Ebenen, fließendurch verschiedene Dimensionen aus Ratio, Emotionalität, Witz und Schizophrenie und münden völlig unerwartet in ebenso logische wie hinreissende Klanggeflechte: „Thingin“.

Lee Konitz` Spätwerk mit diesem leichten, lockeren Swing-Kick klingt an jenem Abend im Neuburger „Birdland“-Jazzclub wie eine Prophezeiung. Der Auftakt zu einem konzertanten Manifest einer Supergruppe, in deren Zusammenhang der dröge Modebegriff „Kammerjazz“ ungeheuer banal, ja fast herabwürdigend wirkt. Der Trompeter Kenny Wheeler, der Pianist Frank Wunsch, der Bassist Gunnar Plümer und eben Konitz selbst am Altsaxofon spielen zwar wie ehedem leise und akustisch, wiegen aber den Zuhörer niemals in eine trügerische vorweihnachtliche Tutteligkeit. Ihr Oevre wirkt erfrischend sperrig, dunkel, voller bittersüßer Melancholie. Ein Neben- und Übereinander von klar durchdachten Kompositionen und spontanen Improvisationen, von konstruktiver Raffinesse, tektonischer Intelligenz und rauschhafter Hymnik.

Welch ein Glücksfall, dass diese aussergewöhnliche Ballung von kreativem Potential an diesem Abend für eine weitere CD der Reihe „Live At Birdland“ (im kommenden Jahr erhältlich beim Label „Double Moon“) festgehalten wurde. Lee Konitz, die weissbärtige Ästhetik-Instanz aus Chicago, offenbarte bei seinem mittlerweile siebten Neuburg-Gastspiel am Alto – welch Wunder – abermals bislang unvermutete Seiten. Diesmal weniger trocken-metallisch, als vielmehr luftig-warm. Sein intuitiver Sound rankt sich wie wilder Efeu an Gunnar Plümers massiven Basslinien empor, als wolle er durch ein winziges Loch in der Wolkendecke schlüpfen. Da spricht kein geschwätziger, eitler Sax-Geck (obwohl Konitz abermals höchst sensibel auf Fotografen oder andere Störungen reagierte), sondern ein konkurrenzloser Klangforscher, verliebt in den Austausch, die Kommunikation, das Zuhören, das Eintauchen in neue, fremde Welten.

Seine selbstvergessene romantische Trunkenheit nach Melodien kann Konitz wie kein Zweiter mit Kenny Wheeler teilen, diesem introvertierten Genie am Flügelhorn. Der Engländer nimmt sich zunächst völlig hinter seine Partner zurück, lässt diese behutsam einen Stimmungsrahmen formen. Dann beginnt er, darin Geschichten voller Tiefe und Weisheit unterzubringen, alle sorgsam austariert, detailverliebt, selten verschnörkselt.

„Where Do We Go From Here“, „Time Folk“, das polyphone „Satie“ des voller abgeklärter Innerlichkeit agierenden Pianisten Frank Wunsch, „Lennie`s“, Konitz` grandiose Hymne auf seinen Lehrmeister Lennie Tristano, oder dessen Miniatur-Homage auf den Sänger Mel Thormé‚ zu Beginn des zweiten Sets: jedes Stück fügt sich fein zisilierend und symmetrisch im matten, intimen Licht des Hofapothekenkellers zu fulminanter Farbenpracht. Ein oranger Klecks, ein blauer, ein tiefroter – diese Musik beinhaltet einfach alles: rasche Skizzen und Gemälde für die Ewigkeit, flüchtige Gedanken und epochale Dogmen. Zeitlose Meisterwerke des modernen Jazz.