Die Generation der großen Alten ist nahezu komplett von der irdischen Bühne abgetreten, andere versuchen, die entstandenen Lücken zu füllen. Immer offenkundiger greift die Branche dabei zu den vermeintlichen Erfolgsrezepten des Pop. Aber wenn die Farbe des Anzugs irgendwann die gleiche Bedeutung erlangt wie der gespielte Ton, dann zerfasert auch die Musik. Inzwischen scheint alles zu gehen: Bebop und Polka, Ballade und Sampling, Blues und Techno, Rollmops und Götterspeise. Die verzweifelte Suche nach Stars wirft ein Schlaglicht auf die Krise des Jazz im 21. Jahrhundert. Dabei gäbe es wenigstens einen Kandidaten…
Gestern Mittag am Flughafen München: Kenny Barron kommt gut gelaunt aus dem Terminal, schließlich dauerte der Flug von Paris keine eineinhalb Stunden. Er freue sich auf den heutigen Abend im Neuburger Birdland, sagt er. Es ist sein einziges Gastspiel in Deutschland, ein exklusives noch dazu, weil der 79-jährige Pianist nun mal gerne im atmosphärischen Hofapothekenkeller auftritt und ihm der dortige Clubchef Manfred Rehm jeden nur erdenklichen roten Teppich ausrollt. Denn das Quintett-Konzert am Faschingsdienstag wird beileibe nicht das einzige in diesem Jahr in Neuburg bleiben. Kenny Barron soll im Frühjahr noch einmal im Trio vorbeikommen und im Herbst mit seinem phänomenalen Soloprogramm abermals dem Birdland seine Aufwartung, was schon aus dem Rahmen fällt, da Manfred Rehm selbst renommierte Künstler maximal einmal pro Jahr engagiert. „Eigentlich sollte ich darüber nachdenken, mir ein Appartement in Neuburg zu mieten“, lacht der stets charmante Gentleman. Jede Wette: Rehm würde ihm auch das besorgen.
Denn Kenny Barron spielen zu hören, das gehört heute zu den großen Ausnahmen in einem zunehmend gleichförmigen Business. Jede gedrückte Taste gleicht einem Bekenntnis zur reinen Schönheit des Klanges und der Musik. Das wussten auch die Veranstalter des Augsburger Jazzsommers, wo er 2019 als Herzenswunsch die Ära von Festivalleiter Christian Stock (leider wegen der Witterung im Gewächshaus des Botanischen Gartens) beendete. Dabei steht Barron für den klassischen Antistar. Sein Tagesablauf gleicht dem eines Durchschnitt-Amerikaners, der irgendwo in Brooklyn in einem Reihenhaus lebt, sich zum Barbecue eine Schürze umbindet, jeden Morgen um 6.30 Uhr aufsteht, nicht raucht, seit über 60 Jahren mit ein und derselben Frau verheiratet ist und nebenbei noch ein bisschen Klavier spielt. Kenny Normalverbraucher. Rock’n’Roll, vielleicht auch Jazz – das wissen wir inzwischen – gehen definitiv anders.
Aber braucht er das eigentlich? Gilt tatsächlich nur derjenige etwas, der mit spektakulären Eskapaden permanent für Aufsehen sorgt? Kann es sein, dass jemand einfach nur seiner großen Liebe, der Musik, frönt, dass er ihr konzentriert, innerlich und still dienen will und das ganze Drumherum einfach für nicht so wichtig hält, inklusive seiner eigenen Person? „Je älter ich bin, umso mehr gestatte ich mir, auch Fehler zu machen. Diese Erfahrung lohnt sich. Denn an Fehlern zu arbeiten, ihren Ursprung zu ergründen, sie nach und nach zu beseitigen.“ Bemerkenswert, so etwas aus dem Mund eines erklärten Perfektionisten zu hören, der um jede Note, jeden Anschlag ringt, der genauso wie sein großes Vorbild Tommy Flanagan nur ganz selten mit sich selbst zufrieden ist. Erst im vergangenen Herbst bekam Barron zum wiederholten Mal die mithin wertvollste Auszeichnung der Jazzwelt verliehen, den Kritikerpreis der Fachzeitschrift Down Beat für den besten Pianisten – zum inzwischen vierten Mal. Seine Reaktion: „Es gibt so viele großartige Pianisten.“ Um dann hinzuzufügen: „Aber ich fühle mich geehrt.“ Seine Weggefährten geizen dagegen weniger mit Superlativen. „Ich kann mir niemanden vorstellen, der es mehr verdient hätte“, lobt Barrons langjähriger Bassist Buster Williams, während ihn Rufus Reid, ein weiterer Bass-Kollege, mit den Worten preist: „Wenn man mit Kenny spielt, fühlt es sich an, als wäre der Flügel doppelt so groß.“ So könnte man das beliebig fortsetzen.
Alle mögen sie Barron, weil er die seltene Gabe besitzt, sich anpassen zu können, ohne das eigene Profil zu verleugnen. Seine Devise lautet: Liebe deine Band ebenso wie dich selbst. Vielleicht sogar ein bisschen mehr. Der geborene Teamplayer. Kein klassischer Regisseur. Eher einer dieser unscheinbaren, bienenfleißigen Wasserträger, die jedes Loch stopfen, ein Spiel im Voraus lesen können, ungeordnete Einzelteile verbinden und sich auch nicht zu schade sind, für den gemeinsamen Erfolg Drecksarbeit zu leisten. Der moderne Fußballfan nennt so etwas einen „Sechser“, der versierte Jazzkenner einen „Musican’s musican“. Bis zur Kollaboration mit dem Tenorsaxofonisten Stan Getz, den er auf seinem letzten Album „People Time“ wenige Wochen vor dessen Tod 1991 begleitete, hatte er die Begleitung zur speziellen Kunstform erhoben, die Zurückhaltung zur noblen Tugend und die Förderung junger Talente zur Lebensaufgabe. Doch plötzlich stand er selbst im Mittelpunkt. Wenn Barron seine Klang-Tempera aus brasilianischer und japanischer Musik, aus freien Passagen, Bop, Pop und sogar klassischen Versatzstücken auf die audiophile Leinwand wirft, entsteht Großes.
Im Januar veröffentlichte er mit „The Source“ (Artwork/Harmonia Mundi) ein atemberaubendes Soloalbum, in Neuburg darf er wieder Teil einer Band sein, die natürlich seinen Namen trägt, und der unter anderem der Wundersaxofonist Immanuel Wilkins oder der Vibrafonist Steve Nelson angehören. „Ich habe über die Jahre gelernt, mich nicht zu ernst zu nehmen“, lächelt der Tastenaristokrat. „Ich tue einfach nur, was ich kann. Und was ich gerne mache, ist Menschen auf einer emotionalen Ebene zu erreichen. Ich will nicht, dass sie zu viel darüber nachdenken, was ich spiele. Einfach hinsetzen und die Musik genießen!“