Energie. Eine Lawine, gewaltig, mächtig und unaufhaltsam, rollt durch den proppenvollen Hofapothekenkeller. Niemand wehrt sich dagegen, alle wollen sich mitreißen lassen, von diesem Strom aus Groove, blitzartig auftauchenden Harmonien, Tempowechseln und unprätentiösen, aber ausgesprochen wirkungsvollen Solo-Exkursen. Und dann der jähe Kontrast: Ruhige, mitunter melancholische Melodien, behutsam strukturiert und reduziert, farbig und emotional. Die gesamte Bandbreite dessen, was in und um ein Jazzpiano alles passieren kann.
Es ist Faschingsdienstag, und Neuburg wird mal wieder seinem Ruf als (un-)heimliche Jazzhauptstadt der Republik mehr als gerecht. An einem Wochentag, an dem noch nie zuvor ein Ton im Gewölbe erklungen ist, sind die Menschen aus allen Himmelsrichtungen an die Donau gekommen, um den (laut dem führenden amerikanischen Jazzmagazin Down Beat) weltbesten Jazzpianisten Kenny Barron zu sehen und zu hören. Seit Wochen schon ist das Konzert bis auf den letzten Platz ausverkauft, denn den 79-jährigen Gentleman aus Brooklyn in diesem intimen Rahmen live zu erleben, das kommt heute mehr denn je einer kleinen Sensation gleich. Impresario Manfred Rehm hatte deshalb alle Hände voll zu tun, um die unaufhörliche Nachfrage zu ordnen und die Gemüter zu beruhigen, bis ihm Kenny Barrons Liebe zu Neuburg und dem Club in die Karten spielte. Weil der Tasten-Zauberer in diesem Jahr seinen 80.Geburtstag feiert, hat ihn Rehm gleich noch zwei Mal verpflichtet: im April im Trio und im Oktober mit seinem grandiosen Soloprogramm.
Doch heute geht es erst einmal um sein Quintett mit, ein Sammelsurium an Kollegen, die ohne Abstiche wie er das Prädikat „absolute Weltklasse“ verdienen. Da wäre der gerade 25-jährige Immanuel Wilkins, ein Jahrhunderttalent am Altsaxofon, ein Feuervogel, der im rasenden Tempo durch alle Akkordfolgen und Taktstriche flitzt, und dabei das unglaubliche Kunststück fertigbringt, sauber und exakt seine frappierenden Salven abzufeuern. Oder die 68-jährige Vibrafon-Instanz Steve Nelson, ein scheinbar allzeit unter Hochspannung stehender, dennoch geschmeidig und elegant agierender Klangmagier. Von Barrons Stamm-Rhythmuscrew Kiyoshi Kitagawa am alles verbindenden Kontrabass und dem unglaublichen Johnathan Blake am Drumset ganz zu schweigen. Die Fünf wählten ausgerechnet Neuburg als einziges Deutschland-Konzert, quasi als Generalprobe für eine Plattenaufnahme am Wochenende in Paris. Und die Zaungäste bekamen einen Querschnitt durch Kenny Barrons Leib- und Magenthemen aus den vergangenen Jahrzehnten.
„Tragic Magic“ etwa, entstanden 1972, galoppiert wie ein edles Rennpferd über eine scheinbar unendliche weite Wiese, Wilkins lässt dazu energisch die Nüstern schnauben, Nelsen klöppelt im Stile eines wehenden Schweifes, während Blake und Kitagawa die treibenden Hufe verantworten. Kenny Barron ist der Jockey, der Speed, Richtung und Dosierung der wilden Fahrt bestimmt. Aber er braucht dazu keine Peitsche. Seine Autorität nährt sich aus einer allseits akzeptierten Kompetenz, gewaltigen Ohren (bildlich gesprochen) und der Gelassenheit, das Ross – sprich: die Band – einfach mal laufen zu lassen. Ein Rezept, das immer aufgeht, im atemberaubenden „Lemuria Seascape“, in dem der treibende Rhythmus zwischen Piano und Altsaxofon hin und her rollt wie die Räder einer Lokomotive, oder im hinreißenden Monk-Juwel „Green Chimneys“, das durch die Band eine Art instrumentale Seligsprechung erfährt.
Und dann wäre da noch Kenny Barron selbst, der nahbare Alleskönner, der scheinbar in jeder Stilistik zuhause ist; im perlend-süffigen Swing genauso wie in der rumpelnden Avantgarde oder im hüpfenden Bebop. Er scheint überall zu sein, dazwischen, daneben, darunter, darüber. Seine schwerelosen Läufe, seine glitzernden Akkorde, die sanft gesetzten verbindenden Triller verleihen dem traumhaften Solo-Medley aus Songs von Billy Strayhorn und Duke Ellington eine ungeheure Strahlkraft. Ursprünglich wollte Kenny wegen des frühen Abfahrtstermins seines Zuges nach Mailand keine Zugabe geben, aber für Neuburg lässt er sich doch noch breitschlagen. Sein leises, introspektives „Song For Abdullah“ rührt zu Tränen, löst alles Konkrete auf. Das ist Unterhaltungsmusik im besten und ursprünglichsten Sinn des Wortes. Musik, die sich im Moment genügt, dem Augenblick jedoch die Anmutung von Ewigkeit verleiht. Danke!