Regelmäßig ist die amerikanische Ostküste Zielgebiet tropischer Wirbelstürme. In diesem Fall allerdings hat ein Orkan in dieser Region seinen Ausgangspunkt. Kenny Barron aus Philadelphia und sein Quintett sind die Ursache. Ein Birdland-Konzert an einem Dienstag widerspricht völlig den ortsüblichen Gepflogenheiten, selten war eine Veranstaltung dort so schnell ausverkauft wie diese, selten war die Zahl der Pressefotografen im kleinen Club so groß. All das verwundert nicht. Es ist nun mal ein besonderes Ereignis, wenn eine der ganz großen Adressen im Jazz zu Gast ist und der betreffende Künstler überdies nur drei Konzerte in Europa gibt. Neuburg, Mailand, Paris.
Barron ist einer der wenigen Pianisten, die die komplette Geschichte und alle Spielformen des Jazz drauf haben. Kenner der Materie halten ihn schlichtweg für den besten Jazzpianisten der Gegenwart. Dass der bescheidene, freundliche Herr sich nur die Besten als Mitstreiter in sein Quintett holt, versteht sich von selbst. Immanuel Wilkins (Altsaxofon), der seine markanten, stringenten, überaus direkten Soli geradezu in Stein meißelt, Johnathan Blake (Schlagzeug), der stoisch hinter seinen Trommeln sitzt und seine Schläge wie Salven aus den Handgelenken abfeuert, Steve Nelson (Vibrafonist), der nach Erledigung der Basisarbeit im Anschluss an die Themenvorstellung regelrecht explodiert und schließlich Kiyoshi Kitagawa (Kontrabass) aus Osaka, der als Fels in der Brandung fungiert und gleichzeitig für eine unglaublich elastische und federnde Basis sorgt. – Was für eine Traumband!
„Wir fangen mal mit ‚Footprints‘ von Wayne Shorter an“, sagt Barron zu Beginn. „Damit wir uns einstimmen können.“ – Einstimmen? Von wegen. Augenblicklicht bricht der Sturm los, weiß man als Augen- und Ohrenzeuge stellenweise nicht, von welchem Solisten man meisten beeindruckt sein soll. Am intensivsten freilich ist es dann, wenn die Band innehält, im Auge des Orkans sozusagen, in den kurzen Passagen, in denen Barron alleine am Flügel sitzt und in einem Medley aus Duke Ellington/Billy Strayhorn-Stücken und später bei Abdullah Ibrahim’s „The Mountain“ wie unter dem Brennglas die Essenz seiner unglaubliche Vielfalt bündelt und auf den Punkt bringt. Neben all der Umtriebigkeit bei Kompositionen wie „Blues On Stratford Road“ oder „Tragic Magic“ gehen diese intimen Passgen am meisten zu Herzen, offenbaren am deutlichsten die tiefe Emotionalität hinter seinem Tun, die wahre Seele Barron’s.
Zum Ende hin erklärt er, zur allgemeinen Überraschung der Anwesenden, man werde sich ja bald hier im Birdland wieder sehen. Das ist keine leere Schlussfloskel, sondern Tatsache. Am Dienstag, 25. April, bereits wird er mit seinem Trio gastieren und im Oktober dann als Solist. So will das Birdland diesen Granden des Jazz mit drei völlig unterschiedlichen Konzerten in all seinen Facetten, in all seiner Vielfältigkeit vorstellen. Als Geschenk zu dessen Achtzigstem sozusagen und zur Freude aller Jazzfreunde weit und breit. Ein absolut einzigartiges Vorhaben, in der Tat, aber die Chemie zwischen Barron und dem Birdland scheint einfach zu stimmen. Nach diesem sensationellen Konzert im Quintett-Format logischerweise noch mehr als je zuvor.