Kenny Barron Solo | 03.10.2023

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Was macht ein Superstar des Jazz, laut dem amerikanischen Fachmagazin Down Beat auch 2023 wieder der beste lebende Pianist des Planeten, zum dritten Mal innerhalb eines Jahres in Neuburg? „Mir gefällt die Stadt einfach“, antwortet Kenny Barron mit einem entwaffnenden Lächeln, „die Sonne, die Donau, der Birdland-Jazzclub. Ich komme immer wieder gerne hierher!“ Nach dem Faschingsdienstag (im phonstarken Quintett) und einem April-Termin (in seinem Lieblingsformat, dem Trio) gastiert der Mann aus New York nun am Tag der Deutschen Einheit im Stadttheater. Allein. Nur er, ein Steinway-Flügel, 88 schwarzweiße Tasten, zwei Pedale und ein erwartungsfrohes Publikum. Das Finale einer außergewöhnlichen Trilogie, mit der der Club den guten, alten Freund, der seit den 1990er Jahren regelmäßig in den Katakomben der Hofapotheke für musikalische Sternstunden sorgt, anlässlich seines 80. Geburtstag im vergangenen Juni ehren will.

Trotz einer erklecklichen Ansammlung von legendären Musikern hat noch nie jemand zuvor in der 65-jährigen Geschichte des Birdland-Jazzclubs eine derartige Würdigung erfahren. Aber Barron, dieser elegante, emphatische, allzeit freundliche Gentleman verdient sie in jeder Hinsicht. Denn wem sonst würde es gelingen, die gesamte Historie dieser Musikrichtung in 90 Minuten auf die Klaviatur zu zaubern? Lässig pendelnder Swing, schleppender Blues, schwerelose Balladen, halsbrecherische Speed-Attacken, maximale Entschleunigung, improvisatorische Hexenritte, Traditionsbewusstsein und Moderne – kurz: die gesamte Essenz des Jazz, gebündelt in zehn Fingern.

Kenny Barron verfügt über eine für Jazzmusiker hoch entwickelte Anschlagskultur. Jeder Ton besitzt einen enormen Wert, nichts wird hingehudelt oder schlampig intoniert. Zusammengefügt ergeben sie alle einen Schatz, den man um jeden Preis bewahren möchte. Hier entstehen tatsächlich Geschichten auf den Tasten, die viel über diesen Mann verraten. Standards wie Billy Strayhorns „Isfahan“ oder die ältere Eigenkomposition „Sunshower“ sind verträumte, grüblerisch Selbstreflexionen, in denen ein Mensch mithilfe des Elfenbeins seine mentalen Berg-und-Talfahrten zwischen Glück, Nachdenklichkeit und Melancholie offenlegt. Dabei wandert er durch unterirdische tonale Gänge, gläserne Flure, lässt sich von seinem dominanten Bass-Diskant wie von einem Navi führen und lädt das Publikum ein, ihm dabei zu folgen.

Natürlich nimmt das mitunter anstrengende Züge, weil das Programm üppig und vollgepackt ist. Es erfordert alle Konzentration, und er selbst empfindet es ebenfalls mitunter als mühsam, ja sogar gespenstisch, ganz allein für die Gestaltung eines solchen Abends verantwortlich zu sein, ohne die Sicherung eines Basses oder eines Schlagzeugs. Aber wer das musikalische Einzelgängertum nach Jahren als hochbegehrter Sideman als seine eigentliche Bestimmung entdeckt hat – wie Kenny Barron – dem öffnen sich ungeahnte Korridore. Der im Original eher schlurfende Monk-Titel „Well You Neednʼt“ wurde wohl noch nie so schnell, so blitzlichtartig intoniert und damit quasi zu einem völlig neuen Song moduliert, wie an diesem Abend im Stadttheater. Ganz generell entdeckt Barron selbst in tausendfach gespielten Standards wie „How Deep Is The Ocean“ immer noch ein paar übersehene harmonische und rhythmische Strukturen.

Interessant sind die persönlichen Retrospektiven, wie das grenzgängerische „Bud-Like“, mit dem er seinem großen Idol Bud Powell, einem genialen, schwer drogenabhängigen Bebop-Pianisten ein Denkmal setzt. Immer wieder sprintet Barron dabei in modale Minenfelder. Seine Erinnerung an den großartigen Bassisten Charlie Haden, mit dem er im Juni 1998 ein denkwürdiges Gastspiel im Hofapothekenkeller absolvierte, mündet in Hadens traumhafter Komposition „Nightfall“, einer der schönsten Balladen der Jazzgeschichte.

Das Beste kommt zum Schluss: der unter der Oberfläche pulsierende Walzer „Up Jumped Spring“ von Freddie Hubbard sowie das sich langsam drehende „Memories Of You“ von Eubie Blake. Die beiden frenetisch erklatschten Zugaben legen schließlich die Sicht auf den kompletten Kenny Barron frei. Zunächst ein Wust an chromatischen Überwucherungen ohne Titel; eine reine Improvisation wie Keith Jarrett in seinen besten Zeiten, das mithin modernste Stück des Abends, riskant und abenteuerlustig. Ein Blick in die Zukunft aus dem Kopf und den Fingern eines junggebliebenen 80-Jährigen. Und dann noch dieser originäre, urwüchsige, wasserdichte, auch bewusst alte (aber nicht altbackene!) Mississippi-Blues für seinen Schulfreund Jimmy, lustvoll und ohne Schnörkel in die Klaviatur gedrechselt. Ein Versprechen, das schon jetzt Lust macht auf das nächste Neuburg-Gastspiel von Kenny Barron.