Ob Phantastereien je Realität werden, weiß man nicht. Diese hätte es verdient. Man stelle sich vor, in nicht allzu ferner Zukunft würde eine CD-Box in edler Aufmachung auf den Markt kommen mit den drei Konzerten, die Kenny Barron im Neuburger Birdland Jazzclub und gleich nebenan im dortigen Stadttheater gegeben hat. Das erste in Quintettbesetzung im Februar, das zweite im Trio im April und schließlich jetzt eines seiner höchst seltenen Solokonzerte, die nach eigener Aussage ihm durchaus im Vorfeld mitunter Bauchgrimmen verursachen. Vielleicht könnte man das Dreier-Set ja sogar „The Newcastle Concerts“ nennen.
Warum drei mal innerhalb eines Jahres Weltstar Kenny Barron aus New York City ausgerechnet im beschaulichen Neuburg? Weil er vor kurzem achtzig wurde, weil Birdland-Chef Manfred Rehm den berühmten Pianisten aus diesem Anlass in allen seinen Facetten präsentieren wollte und Barron anscheinend dessen Gastfreundschaft und das lokale Umfeld als sehr wohltuend empfindet. Irgendwie spürt man, dass es hier nicht nur um Terminkoordinierung, Finanzen und vertraglich festgelegte Absprachen geht, sondern um gegenseitige Wertschätzung. Barron fühlt sich wohl. Das merkt man deutlich, als er allein da am Flügel sitzt und ein sensationelles Konzert gibt.
Seine Technik ist blendend, aber darum geht es ihm gar nicht mal. Sein Publikum intellektuell zu beeindrucken, interessiere ihn nicht, hat er jüngst im Interview zugegeben, wohl aber, eine emotionale Verbindung zu ihm aufzubauen. Barron ist ein Geschichtenerzähler, drückt in seinem Spiel Gefühle aus und ruft welche hervor, beruhigende, aufwieglerische oder auch kritische. Insofern ist er seinem großen Vorgänger Tommy Flannagan gar nicht so unähnlich. Begnadete Storyteller beide, beide mit Verbindungen nach Neuburg, beide mit gehörig Respekt vor Soloauftritten, beide mit epochalen Veröffentlichungen ausgerechnet in diesem Format, Flannagan posthum mit „In His Own Sweet Time“, aufgenommen im Birdland drei Häuser weiter, Barron mit „The Source“, dessen Inhalt wertvolle Orientierung bietet bei diesem Konzert im Stadttheater.
Flannagan und Thelonius Monk, obwohl sie hinsichtlich ihrer Spielweise – lyrisch fließend der eine, scharfkantig der andere – recht unterschiedlich waren, sind denn auch zwei wichtige Einflüsse, die Barron immer wieder nennt. Es wird nachgesagt, ein genialer Allrounder zu sein. In ihm bleiben Flannagan und Monk lebendig, er beherrscht jede Nuance der beiden und alles dazwischen, spiegelt in 100 Minuten im Grunde die komplette Geschichte des Jazz wieder, an diesem Abend unter besonderer Würdigung von Bud Powell, Eubie Blake und Billy Strayhorn. Auch Rehm zählt Flannagan und Monk zu seinen persönlichen Favoriten. Schon wieder eine Gemeinsamkeit.
Ist die vorhanden, dann kommt auch ein Gigant des Jazz, der laut Downbeat „beste lebende Pianist“ überhaupt, aus der Hauptstadt des Jazz gerne in die oberbayerische Provinz, auch dreimal binnen eines Jahres, spielt vor Zuschauerzahlen, die für Neuburg durchaus hoch sein mögen, für Barron, der überall sonst große Säle füllt, freilich nicht, ist Star zum Anfassen und jedes Mal bester Stimmung. Was für eine ungewöhnliche Geschichte um den großen Geschichtenerzähler vom Big Apple, die man am liebsten auch mit einem akustischen Zeitdokument für alle Ewigkeiten festhalten möchte. Vielleicht wird’s ja tatsächlich was mit der eingangs in den Raum gestellten Phantasie. – Das wäre natürlich in der Tat ein Ding!