Warum muss Jazz immer nur wie Jazz klingen? Ein Abrufen von erlernten Strukturen und konditionierten Reflexen, Swing als kleinsten und größten gemeinsamen Nenner, das ewige Thema-Solo-Thema-Muster? Warum nicht einfach mal mit allen Tabus brechen, Rock- und Poptupfer einfach ohne Vorwarnung auf freie, atonale Passagen plumpsen lassen? Mit einer Formation, die ihre klassischen Rollen abstreift, und das in der traditionellsten Besetzungsform des Jazz, dem Pianotrio?
Geht! Den Beweis erleben die Besucher im erfreulicherweise dicht besetzten „Birdland“-Jazzclub zum Auftakt der heißen Phase des 8. Birdland Radio Jazz-Festivals in zwei abwechslungsreichen wie erfrischend unkonventionellen zwei Stunden. Die Pianistin trommelt mit Paukenschlegeln im Inneren des Bösendorfer-Flügels, der Bassist führt träumerisch mit fließenden Bögen durch das Thema und der Schlagzeuger singt. So einfach ist das! Herrlich verquast und verwinkelt, aber auf eine verblüffende Art zugleich auch logisch, simpel und publikumswirksam.
Wenn die Berlinerin Julia Kadel, die als einer der Shootingstars des neuen deutschen Jazz gilt, ein Stück „Abheben und Abtauchen“ nennt, dann darf man dies ruhig wörtlich nehmen. Denn die quirlige 31-Jährige macht im besten Wortsinn Programmmusik. Sie reiht all ihre im Urlaub erlebten Glücksmomente in einer überschäumenden Abfolge von Dur-Akkorden aneinander, um gleich danach in einem riesigen, schwarzen Loch zu verschwinden. Oder „Herunterfallen“: Da konstruiert das Klavier quälend langsame Zeitlupensequenzen, der Bass tickt langsam wie ein abnehmender Herzschlag und das Drumset zischelt wie der Fallwind. Auf diese Weise erlebt der Zuhörer vor seinem geistigen Auge einen langsamen freien Fall.
So funktioniert ihre Lesart von Jazz 2018: Alles reinpacken in einen einzigen Song. Man könnte auch sagen: Julia Kadel bedient sich nach Lust und Laune aus dem Gemischtwarenladen der Klänge, Stile und Epochen. Sie vermengt authentische Emotionen mit stupender Technik, Mut und Unvoreingenommenheit. Die überlieferten Strukturen des Pianotrios sind dabei längst aufgehoben. Drummer Steffen Roth sieht sich kaum mehr als stoische Rhythmus-Maschine überlieferter Prägung, sondern liebt es, auf seinen orientalischen Gongs sphärische Aromen zu kreieren. Karl-Erik Enkelmann am Bass versinkt scheinbar in seinem Holzkorpus, lässt kellertiefe Töne abtropfen und buchstabiert die lyrische Versform, in der das Trio nach außen tritt, mit stolzgeschwellter Brust
Das Faszinierende dabei: Die Musiker funktionieren nicht mehr als ein Zusammenschluss dreier herausragender Solisten (die sie zweifellos sein könnten), sondern von Konzert zu Konzert, von Album zu Album mehr als organische, in sich geschlossene, aufeinander abgestimmte Einheit. Kadel, Roth und Enkelmann präsentieren das Pianotrio in Neuburg als ganzheitliches, neues Instrument und schieben damit den Horizont des Jazz wieder ein Stückchen weiter nach hinten. Das kundige „Birdland“-Publikum dankt ihnen dies mit frenetischem Beifall. Klasse!