John Scofield’s Überjam | 25.05.2003

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Die Eingeweide vibrieren, die Wandlampen wackeln, die Gläser auf dem Tablett der Bedienung zittern. Und es sind nicht die einzigen bedrohlichen Begleiterscheinungen an einem völlig unerwarteten, fast subversiven Abend.

Solche Eruptionen haben die schmucken Katakomben unter der Neuburger Hofapotheke, diese vermeintlich letzte Bastion des unverfälschten Purismus, fürwahr noch nie erdulden müssen. „Sco“ ist wieder in der Stadt, zweieinhalb Jahre, nachdem er das „Birdland“ auf offener Bühne zum weltbesten Jazzclub adelte, und es gibt mächtig was auf die Ohren. John Scofield, der Übergitarrist, hat zu Ehren seines alten Freundes Attila Zoller für das „Immens“-Festival seine neue Formation „Ueberjam“ mitgebracht. Dort sägt sein Gitarrist-Konterpart Avi Bortnick gnadenlos gut und erhebt das Sampling endgültig zur barrierefreien Kunstform, während Bassist Andy Hess mit grenzenloser Energie und dem Ordnungssinn eines Verkehrspolizisten durch den Laden wummert und Drummer Adam Deitch jeden noch so schweren Groove wie auf einer Wolke schweben lässt.

Die Frage stellt sich nicht, ob es Zoller gefallen hätte, nur weil er selbst zeitlebens einen weiten Bogen um solche Experimente machte. Der vogelfreie Nonkonformist begegnete der Arbeit von Kollegen stets mit ungewöhnlich großer Toleranz, wenn sie nur ein Fünkchen Eigenständigkeit in sich trug. „Wir alle mochten Attila, er hat mir in New York viel geholfen“, erklärt Scofield, und es klingt ehrlich, wenn er hinzufügt: „Ich bin stolz, ihm heute die Ehre erweisen zu können. Ich widme ihm das ganze Konzert.“ Sagt`s und intoniert sphärisch-versonnen „Like the Moon“, das sich in der überbordenen Wundertüte von Soul, Rhythm`n`Blues, Funk, Hiphop, Techno, Disco, Afrobeat, Drum`n`Bass und Jungle bewusst abhebt.

Er hat sich auch den Enthusiasmus, die unverbaute Freude auf das Unerwartete, das Attila Zoller wie kein anderer vorlebte, zueigen gemacht. Eigentlich müsste „Sco“, dieser alte, Sturm erprobte Haudegen und Ex-Partner des großen Miles Davis, der Mann der 100 Billionen Noten, längst leer gespielt sein. Doch in Neuburg wirkt er, als stünde er zum ersten Mal auf der Bühne. Grinst, weidet sich an den Griffen von Avi Bortnick, die so zickig wie die von „Chic“-Gründer Bernard Edwards klingen, feiert jeden geglückten Break mit einem befreiten Stöhnen, dreht an Knöpfen, wundert sich fast kindlich über die erzeugten Samples und drückt auf das Wah-Wah-Pedal wie ein postpubertärer Mantafahrer.

Den Job scheint Scofield längst als metaphysische Angelegenheit zu betrachten. Titel wie „I brake 4 Monster Booty“, „Every Night is Ladies Night“ oder „Whatcha see is whatcha get“, der runderneuerte 70er-Hit der Dramatics, stehen dafür exemplarisch: Musikfilets, reichlich in Adrenalin eingelegt, gut in der Bluesräucherkammer abgehangen, von vier Meisterköchen rattenscharf zubereitet und mit den alten Tricks der Improvisation elegant serviert.

„Ueberjam“ lassen Aliens landen („Watch out for Po-Po“) inszenieren Albträume in Noten („Thikhathali“) oder  geben der kollektiven Tanzwut gehaltvolle Nahrung („Freakin` Disco“). Und sie zelebrieren ihre genialen Riffs bis zur Neige, immer und immer wieder, noch einmal – bis auch der letzte Purist verschämt mit dem Fuß unter dem Tisch zu wippen beginnt. Das hat Scofield beim Jazz gelernt: die „Power of Repetition“, das unaufhörliche Morsen von tonalen Botschaften, die wie ein Pfeil schlussendlich Bauch, Herz und Hirn durchdringen.

Das alles gehört ebenso zur gesunden Verrücktheit eines solchen hinreißenden Abends, wie die vorübergehende Verwandlung des guten, alten, atmosphärischen Jazzkellers  in einen richtigen dröhnenden Rockclub.