Für John Abercrombie gibt es zwei Rastermuster. Die einen sehen in ihm den Mann fürs Grobe, der lärmen kann, wie kaum jemand, wirkungssicher, soundbewusst und voller jugendfrischer Energie. Die anderen verehren ihn als den Meister der Differenzierung, dessen luftige Singlenotes sich mit ungewöhnlichen Akkorderweiterungen zum clever balancierten Idealtyp jazzender Modernität verbinden.
Dass der 54jährige aus dem Städtchen Portchester im Staate New York jedoch bis dato noch nie seine herausragenden Fähigkeiten zu einem einzigen, komplexen Stil bündeln konnte, lag vor allem an der Zusammensetzung seiner jeweiligen Gruppen. Ein gordischer Knoten, den Abercrombie selbst 1999 endgültig zerschlagen hat. Mit seiner neuen Workingband um den Violinisten Mark Feldman, den Organisten Dan Wall und den Drummer Adam Nussbaum, die während ihrer Europatournee auch im Neuburger „Birdland“-Jazzclub gastierte, fand er endlich die passende Synthese für seinen übersprudelnden Einfallsreichtum.
In einer Formation wie dieser wachsen die Klänge beinahe organisch zusammen, hüllen sich in ein feines Netz fordernder Ästhetik und lassen jedem der vier Weltklasseinstrumentalisten den nötigen Raum zur Selbstentfaltung. Da gibt es standardähnliche Melodien („Little Booker“, dem Trompeter Booker Little gewidmet), Einfälle mit folkhaftem Hintergrund („That`s For Sure“), countrybraune Schattierungen, atonale Lichterketten tauchen plötzlich in einem Roadblues auf, auch nahezu freie Passagen („Descending Grace“), die nur noch vom Puls schöpferischer Kommunikation zusammengehalten werden. Obwohl ein Nebeneinander starker musikalischer Charaktere, erscheint das Ensemble im höchsten Maße symbiotisch und weckt in seinen spannendsten Momenten Erinnerungen an die Sternstunden des Genres.
Das legendäre „Mahavishnu Orchestra“ wäre so eine Vision – rein akustisch versteht sich. Schuld an diesem Vergleich ist in allererster Linie der phänomenale Geiger Mark Feldman. Ein begnadeter Virtuose, der mit saxophonähnlichem Sound und dosiertem Vibrato die Grenzen zwischen Jazz, Rock und Klassik förmlich pulversiert. In der gesamten „Birdland“-Historie gab es nur ganz selten kreativere Momente als Feldmans hinreissende zentrifugale Frage- und Antwortduelle mit dem übersprudelnden Abercrombie.
Oder Dan Wall: der innovative Schöngeist an der Hammond B-3 türmt niemals monströse Geräuschkulissen auf oder blubbert nur einfach geckenhaft daher. Er füllt vielmehr mit einem Höchstmaß an Geschmack und spieltechnischer Intelligenz die entstehenden Hohlräume. Ein Ausnahmeschlagzeuger wie Adam Nussbaum schwebt sowieso zwischen allen Tönen, wie ein Fakir auf seinem Teppich. Ob schlanke Soul-Grooves, zärtlich-delikater Besenswing oder diffuse Kreuzrhythmen: Nussbaum weiss immer, wo sich seine Mitstreiter hinbewegen. Er ebnet ihnen unscheinbar den Weg zum gemeinsamen Ziel.
Das Publikum im Keller unter der Hofaotheke ahnte spätestens im zweiten Set, dass hier Aussergewöhnliches passierte. Selten zuvor war die Konzentration im Auditorium intensiver, die Faszination größer, der Beifall selbst nach der Zugabe enthusiastischer. Ein Konzert, das im selben Maße begeisterte, wie es berührte.