Schon komisch: Alles klingt so einfach, so nachvollziehbar. Keineswegs so, als hätten die Musiker dort oben schon zehntausende von Probenstunden, von Selbstzweifeln und Rückschlägen hinter sich. Dabei passt das, was sie spielen, tatsächlich wieder mal in jede Klischeeschublade: Vertrackte, krumme Taktarten, abrupte Tempowechsel, halsbrecherische Changes, kurzum alles, warum Menschen den Jazz gerne als kompliziert und verkopft in die Schmuddelecke stellen. Doch Johannes Enders und sein Quartett wollen in erster Linie Spaß – und transportieren dies auch im Laufe eines durchaus bemerkenswerten Abends im Neuburger Birdland-Jazzclub. Denn Spaß ist eine der wesentlichen Säulen, um anspruchsvolle Musik erst vermittelbar zu machen. Amerikaner nennen das „sophisticated“.
Also präsentiert sich Enders, dieser freundliche Riese mit dem Tenorsaxofon, nicht wie ein neunmalkluger Zauberkünstler. Er nutzt seine phänomenalen Fähigkeiten, die ihn zu einem der wichtigsten Vertreter dieses Instrumentes weltweit erhoben haben, dazu, um Geschichten zu erzählen. Jeder kann ihnen folgen, sie nachvollziehen. Und man muss sich nicht unbedingt mit den Geheimnissen des Tenorsaxofons vertraut sein, um zu fühlen, dass es nichts gibt, was der Hüne aus dem oberbayerischen Weilheim nicht kann. Früher gab Johannes Enders meist den ekstatischen Hotblower, heute kann er sein Spiel auf faszinierende Weise variieren. Mal schwelgt er in rhapsodischen Melodiebögen, lässt warme, atmende Linien ins Thema fließen, haucht luftige Balladenträume in Moll ins Gewölbe oder brilliert mit weiten Intervallen und abenteuerlichen Akkordunterlegungen. Nichts geschieht dabei zum Selbstzweck, alles dient dem gemeinsamen musikalischen Ausdruck. Dass der 55-Jährige dabei die gesamte Geschichte dieses Instrumentes von John Coltrane über Sonny Rollins bis hin zu Wayne Shorter umreißt, muss man nicht unbedingt wissen. Aber kann es irgendwie spüren.
Und dann ist da noch das Thema „Spaß“. Enders huldigt Vorbildern wie dem großen, kürzlich verstorbenen Tenoristen Pharoah Sanders oder geschätzten Kollegen wie dem Pianisten Oliver Kent mit witzigen Umkehrungen und Umdeutungen. Sein soulig-bluesiges „The Creator Has A Plan B“ adaptiert Sandersʼ bekanntesten „Master Plan“-Song, während Kents munter boppende, aber nie ausgelassene Hommage den Titel „Sir Oliver“ trägt. Es sind keine Licks, die er absondert, sondern Statements von immenser Körperlichkeit. Fast immer spannt der Saxofonist mehrere Einflüsse und Verarbeitungen zusammen und formt daraus etwas Eigenes, getragen von seinem unverwechselbaren, leicht heiseren, noch im experimentellsten Improvisationsteil oder Solo der absoluten musikalischen Schönheit verpflichteten Ton. Die wunderbar aufeinander eingespielte, internationale Band um den phänomenalen Schweizer Pianisten Jean-Paul Brodbeck, dem kunstvolle gedrechselte Basslinien entwerfenden Niederländer Joris Teepe und dem flirrende Rhythmen übereinander schichtenden amerikanischen Drummer Howard Curtis erlangt eine eindringliche erzählerische Kraft, die jeden Kopf erreicht und direkt ins Herz weitergeht. Das gesamte Konzert entwickelt einen faszinierenden kaleidoskopischen Charme, weil es sich nicht krampfhaft an ein vermeintliches Erfolgsrezept klammert, sondern aus dem Augenblick heraus entsteht, dem Zusammenspiel der Musiker und ihrem Urvertrauen zueinander.
Das letzte Stück des Abends trägt den Titel „No War“ und braucht keine Erklärung. Brodbecks melancholisches Intro assoziiert Bilder von spielenden Kindern, grünen Wiesen, Sonnenuntergängen, bis Curtis am Schlagzeug drohende Marschmusik durchklingen lässt. Aber der Himmel mag sich nicht verdunkeln, die Musiker wehren die Szenarien mit all ihrer virtuosen Kraft ab, entwerfen Alternativen für den Untergang. Über all dem wacht Johannes Endersʼ Tenorsaxofon wie ein Mauersegler, der dafür sorgt, dass dieses Idyll keine Risse bekommt. Schwieriges Thema, höchst anspruchsvolles Handwerk, einfache, aber wirkungsvolle Lösung. Und frenetischer Beifall vom wie gebannt lauschenden Publikum.