Man stelle sich vor, man könnte sich in zwei Sprachen grammatikalisch absolut korrekt und auch noch akzentfrei ausdrücken, hätte zwei Muttersprachen vom ersten Tag an in sich aufgesogen, gelte deswegen dies- und jenseits des Schlagbaums als Einheimischer, hätte quasi zwei „Heimaten“ und das Ganze wäre das Normalste von der Welt.
In übertragenem Sinne gilt das für die Pianistin Johanna Summer. In ihrer noch jungen Vita existieren Klassik und Jazz gleichberechtigt nebeneinander. In beiden Genres wurde sie ausgebildet, beider Sprachen und Regeln – von Puristen lange Zeit vehement gegen Einflüsse von außen verteidigt – beherrscht sie mit traumwandlerischer Selbstverständlichkeit. Sie hat eine Menge Energie aufgewendet, die entscheidenden Nahtstellen zwischen beiden aufzudecken, was dazu führte, dass sie nun die Grenzen aufweicht, verwischt und bei Bedarf auch völlig ignoriert. Wie das dann in der Praxis klingt, davon kann man sich an diesem Abend im Birdland Jazzclub ein Urteil bilden.
Ihr Auftritt ist Teil der Neuburger Barockkonzerte und gehört gleichzeitig zur Birdland-Reihe „Art Of Piano“, was schon einiges aussagt. Das Konzert ist eine durchgängige Improvisation ohne Noten. Niemand weiß also genau, wohin die Reise gehen wird, auch die Pianistin selbst nicht. Es gibt keine Kompositionen, nur Blöcke. In die darf alles einfließen. Musik, die ihr gerade durch den Kopf geht, an die sie sich gerne erinnert, die sie als Pianistin beeinflusst und geprägt hat. Das sind neben vielen anderen Johann Sebastian Bach und Robert Schumann auf der einen und Keith Jarrett oder Esbjörn Svensson auf der anderen Seite. Sie nimmt sich die Freiheit, sich in der für ihre Zwecke geeigneten Literatur ganz zwanglos zu bedienen und dann den Dingen einfach freien Lauf zu lassen. Ihr Talent und ihr Gespür für das, was zum Augenblick passt, sind enorm. Man erkennt zwar, ob sie sich im Moment gerade mehr im Idiom der Klassik aufhält oder in den Gefilden des Jazz, aber darum geht es letztendlich gar nicht, denn Genredenken wird bei ihr weitgehend aufgehoben. Relevant ist alles, was am Weg liegt und integriert werden kann. Damit sorgt Summer für unwiederholbare Momente, für zwei unwiederbringliche Sets, schafft aus ursprünglich voneinander getrennten Welten eine, nämlich ihre eigene. Die ist einzigartig. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn das nächste Konzert wird mit Sicherheit anders klingen als das hier im Birdland, wird andere Schwerpunkte und eine andere Gewichtung haben als das in Neuburg.
Mit gerade mal 29 Jahren ist Johanna Summer nicht nur ein Riesentalent, sondern bereits eine Trendsetterin in der europäischen Musiklandschaft, was an ihrem unerschrockenen, aber nie respektlosen Umgang mit den Säulenheiligen in beiden Lagern liegt, an der Art, wie sie mit vorgegebenen Formen spielt, an ihnen herumzerrt und einfach mal schaut, was innerhalb der gut 90 Minuten eines Auftritts so alles passieren kann. Wer Zeuge dieses Solokonzerts der Ausnahmepianistin war, kann sich glücklich schätzen. – Am 8. November kann man Johanna Summer noch einmal in der Region erleben. Zusammen mit dem Saxofonisten Jakob Manz und dem Pianisten Michael Wollny gibt sie im Rahmen der Ingolstädter Jazztage ein Konzert in der Kirche Sankt Pius.