Johanna Summer – Im Rahmen der 77. Neuburger Barockkonzerte | 11.10.2024

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Seit 2000 suchen die „Brückenschläge“ bei den Neuburger Barockkonzerten immer wieder nach der verflixten Quadratur des Kreises. Die feine Klassik mit dem hemdsärmeligen Jazz zu verbinden, das bleibt oft genug ein ambitioniertes, aber schlussendlich wieder unlösbares Unterfangen. Und dann kommt eine 29-jährige Pianistin aus Leipzig zum kleinen 25. Jubiläum der Crossover-Reihe der 77. Barockkonzerte in den – natürlich wieder – voll besetzten Birdland-Jazzclub, spielt ganz allein zwei Sets von jeweils rund einer Stunde Länge, und plötzlich liegt der Heilige Gral klar und erkennbar auf dem Tisch.

Johanna Summer, der berühmtere Tastenkollegen wie Igor Levit oder Joachim Kühn ob ihrer besonderen Fähigkeiten längst zu Füßen liegen, hat einen völlig eigenen Ansatz entwickelt, wie sie Klassik und Jazz auf einen gleichberechtigten, glaubwürdigen und vor allem hörbaren Nenner bringen kann. Sie nimmt sich eine klassische Vorlage, aber spielt diese nicht stumpfsinnig nach, sondern denkt sie weiter, löst diese aus den starren Felsblöcken der Klassik heraus und überführt das Material in einen schwerelosen Raum. Damit schlachtet Summer quasi eine heilige Kuh nach der anderen. Bis etwas Neues, Authentisches entsteht. Im atemlosen Birdland spürt die junge Pianistin der DNA großer Stücke wie Johann Sebastian Bachs „Jesu bleibt meine Freude“, Rachmaninovs Prelude in g-moll, Germaine Tailleferres Pastorale oder Schuberts Impromtu Opus 90 As-Dur nach, und legt diese sie ganz intuitiv frei. Sie klingen dann anders. Während ihre klassischen Kollegen keinen Millimeter von den originalgetreuen Noten abweichen und Unterschiede allein im Anschlag oder im Tempo zu erkennen sind, beginnt Johanna Summer selbstständig zu gehen. Zu improvisieren.

Ihre Wanderung vollführt sie auf der Klaviatur, über 88 schwarzweiße Tasten, mit ihren zehn Fingern, und gerät dabei allmählich in einen Flow. Keine Trance im Sinne des einst hypersensiblen Keith Jarrett, sondern ein langsames Öffnen der Struktur, wie bei einer Operation am offenen Herzen. Man könnte es auch mit einem Herablassen der inneren Schutzschirme vergleichen, die einen vor der Reizüberflutung des normalen Lebens bewahren, so wie bei einem Raumschiff, das langsam zu fliegen beginnt, um dann auf Warp-Geschwindigkeit zu gehen. Die Frau bei ihrer Arbeit zu beobachten, ist allein schon ein Erlebnis. Ihre mal temperamentvollen, mal betörend schönen Läufe werden immer leiser – und mit ihnen automatisch die Geräuschkulisse im Publikum, bis irgendwann die Zeit und die Musik stillzustehen scheinen. Dann beginnt Johanna Summer wieder behutsam zu spielen, erst mit einem gedankenverloren in der Luft platzierten Akkord, bis sie die Finger sanft wieder zu den Tasten führt, um zum nächsten Stück überzuleiten.

Barocke Triller stehen wie selbstverständlich neben gospelartigen Blockakkorden, einfache, liedhafte Weisen passen mit einem Mal ziemlich gut zu sperrigen Tonartwechseln, Zitate aus der klassischen Literatur stehen gleichberechtigt neben Anleihen aus dem Great American Songbook. Das Publikum und sie hätten nicht gewusst, was sie bei diesem Konzert erwarten würde, gesteht die zum Jazz konvertierte, klassisch ausgebildete Pianistin freimütig zu Beginn ihres Klangabenteuers. Der Verlauf eines solchen Events hängt für sie ganz entscheidend von den Menschen ab, die es hören, wie sie darauf reagieren, wie sie es erleben. „Und ich glaube, wir haben es gemeinsam ganz gut hinbekommen heute Abend.“ Tosender, langanhaltender, verdienter Applaus für eine der mithin größten Versöhnerinnen von Klassik und Jazz, die sich als Zugabe mit Robert Schumanns „Von fremden Ländern und Menschen“ verabschiedet. Bei ihr wirkt alles wie aus einem Guss. Wie eine neue Musik.