Joel Harrison Quartet „Free Country“ | 14.05.2004

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

„Tennessee Waltz“ und „Will the Circle be unbroken“? Normalerweise müsste man gleich auf dem Absatz wieder kehrt machen, wenn einem auf der Bühne eines Jazzclubs wie dem Neuburger „Birdland“ solche ausgewiesenen Country-Schnulzen angekündigt werden. Bei Joel Harrison jedoch würde man etwas versäumen.

Der New Yorker Gitarrist legt es nämlich auf ganz und gar unerwartete Wirkungen an, indem er die alten Schlachtrösser ebenso respektvoll wie radikal auseinander nimmt, manchmal gar ausweidet. Harrison und seine pfiffige Formation ziehen den entkernten Songs eine völlig neue Haut in Form ungewohnter Arrangements über, überführen sie in fremde musikalische Idiome. Country, Bluegrass und Blues werden von den musikalischen Querdenkern keck von innen nach außen gestülpt. Und das derart konsequent, dass es manchmal den Anschein von Johnny Cash on Dope erweckt.

Der taucht irgendwann auch tatsächlich auf – in einer gesampelten Schleife im gespenstischen Outro von „I walk the Line“, so als wolle sein Geist die jungen Burschen bei ihrem blasphemischen Vorhaben unterstützen. Denn hier geht es um die seltene Kunst, Dinge zu verfremden und sie gleichzeitig nicht zu verändern. Auf diese Art bekommt jeder halbwegs mit der populären Musikliteratur bewanderte Zuhörer im leider nur spärlich besetzten Hofapothekenkeller irgendwann seinen persönlichen Wiedererkennungseffekt. Aber Joel Harrison macht es niemandem leicht. Der rote Faden verschwindet häufig unter avantgardistischen Netzwerken, taucht kurzzeitig auf, um dann sofort wieder in mehrere Einzelteile zu zerfasern.

Dass sich dabei etwas ungeheuer Spannendes abspielt, merken die Besucher spätestens im zweiten Set. Der populäre Mittelweg des trügerischen Schönklangs dient allenfalls als vertrauensbildende Maßnahme. Alles fängt meist ziemlich brav an, um dann entweder vom scharfen Tenorsaxofon Dave Binneys, das wie eine Kreissäge in die Themen geht, der glubschenden Hammondorgel von Gray Versace oder Harrisons klirrender Gitarre zerfetzt zu werden. Nach einer stürmischen, völlig freien Improvisationsphase bündeln sich die Kräfte langsam, um in die entgegengesetzte Richtung zu marschieren.

Mit dieser radikalen Bearbeitung einiger nationaler Kulturschätze will Joel Harrison den Hörer von der glänzenden Fassade Amerikas weg- und hin zu den realen Schattenseiten und Schwachstellen locken. Das Pathos, das tiefe Gefühl, die Schlichtheit und die verschmitzte Klugheit von Woody Guthries Alternativ-Nationalhymne „This Land is your Land“ münzt er ganz für seine Zwecke um. Er lässt einen verhangenen Sternenhimmel aufziehen, düster, kalt, ohne Hoffnung auf ein freundlicheres Morgengrauen.

Keine Lagerfeuerromantik, kein naiver Patriotismus. Wenn Harrison, Binney, Versace und Drummer Dan Weiss erklären, was sie unter „Free Country“ verstehen, dann erhalten die alten Lieder plötzlich ihren ursprünglichen Geist der Freiheit zurück. Wie das wunderschöne „Galveston“, das eigentlich die Gräuel des Vietnamkrieges thematisieren soll, aber im Prinzip zeitlos aktuell scheint. Die Geschichte eines innerlich zerrissenen Landes, auf ungewohnte Weise erzählt. Bizarr, furchteinflößend, beeindruckend aufrichtig.