Eine eigenartige Stimmung macht sich im Hofapothekenkeller breit. Dort, wo sonst häufig der Bär steppt und die Menschen sich auf relativ hohem Niveau unterhalten lassen möchten, frieren zwei Musiker und eine Musikerin die Zeit ein. Instrumente bewegen sich langsam, aber voller Vertrauen aufeinander zu, überspielen sich nicht, sondern erzeugen fein austarierte Klanglandschaften, in denen jeder Tick auf die Becken, jeder Tritt auf das Pedal des Bösendorfer Flügels etwas bedeuten. Und dann ist da noch das Saxofon.
Es singt, mäandert, schwebt koloriert – und ja – es swingt auch gelegentlich, weil dessen Bediener in der Zeit der großen Bigbands musikalisch sozialisiert wurde und zu Beginn seiner Karriere im Orchester von Woody Herman eine tragende Rolle spielte. Lang, lang istʼs her. Heute, mit inzwischen 71 Jahren, zählt Joe Lovano aus Cleveland/Ohio zu den größten Saxofonisten des Jahrhunderts, dekoriert 2009 mit einem Grammy und einer der wenigen seiner Zunft, die den Sprung von der Tradition in ein völlig klischeefreies, modernes Musizieren geschafft haben. Sein aktuelles Trio Tapestry mit der Pianistin Marilyn Crispell und dem Schlagzeuger Carmen Castaldi zählt zu den besten Kreativ-Kollektives des aktuellen Jazz, weil es wie kaum eine andere Formation Emotion und Lyrik, harmonische Offenheit und rhythmischen Nonkonformismus stimmiger zu kulminieren versteht. Nur: Was ist das für eine Musik?
Als schwierig sollte man sie nicht bezeichnen, auch wenn es den Anschein erweckt. Aber das hat mit unserer konditionierten Erwartungshaltung zu tun: Ich habe bezahlt, also macht mal da vorne! Aber diese Musik hat nichts von der anbiedernden Kumpelhaftigkeit anderer Darbietungen. Sie will nicht entertainen, sondern lädt dazu ein, in die Tiefe der stets verspielten Themen einzudringen, die weder free noch schräg, sondern einfach frei im allerbesten Wortsinn sind. Die Zuhörer spüren die sanfte Aufforderung, sich emotional zu öffnen. Und das dauert im Birdland mindestens ein Set lang. Erst nach der Pause verwandelt sich die anfängliche Ratlosigkeit in Ergriffenheit und schlussendlich in Begeisterung. Ganz allmählich wirkt der Zauber dieser organisch funktionierenden Crew mit Marilyn Crispell, der Poetin an den Tasten, die wunderschöne, strahlend helle Melodien durch alle Höhen und Tiefen begleitet, sie kristallin anspitzt, um sie dann wieder in ein Bad aus warmem Honig zu tauchen. Oder mit Carmen Castaldi, dem Navigator am Drumset, dessen Puls mehr spür- als hörbar ist und der immer auch eine liedhafte Komponente besitzt. Und natürlich mit Joe Lovano, dem Abenteurer, der die alten Saxofongötter wie Lester Young, Sony Stitt oder John Coltrane absorbiert und in die Gegenwart überführt hat.
Ohne große Kraftanstrengung, im besten Wortsinn spielerisch und im höchsten Maße paritätisch setzen die drei zu Flügen in unterschiedliche Sphären an. Stücke wie „All Twelve“, „Dream On That“, „Zen Like“, oder „One For Charlie“, die bluesige Solo-Saxofon-Ode an den legendären Bassisten Charlie Haden, der 1997 in Neuburg gastierte, sowie „Lady Day“ für die unvergleichliche Billie Holiday, wirken wie spontane Exkursionen in bislang nicht erschlossene Welten. Hin und wieder greift Lovano dabei zum ungarischen Holzblasinstrument Tárogató oder rührt die Gongs. Manchmal pflügen sie auch durch die Struktur wie eine Lawine, die alles mitreißt, mitunter wirken die Nummern wie Bebop-Stücke, die lospreschen möchten, aber von einer unsichtbaren Kraft in eine andere Richtung gezogen werden.
Nach über zwei Stunden intensiver Performance wird jedem klar, was das Trio Tapestry hier geschaffen hat: eine hinreißende musikalische Innenarchitektur, deren Raumgefühl fernöstlicher Malerei oder Haikus gleicht. Lovano, Crispell und Castaldi breiten eine extrem feinsinnige Musik aus, die jeden erreicht, der sich darauf einlassen wollte, und die in nicht endend wollenden Applaus und Zugaben mündet. Ein Konzert, das große Worte verbietet und sie gleichzeitig provoziert.