Einen Säulenheiligen des Tenorsaxofons wie Joe Lovano, der als Saxofonist bereits seit Jahren einen geradezu legendären Ruf genießt, zu Gast zu haben, ist selbst für einen Club, in dem das Who’s Who des Jazz auftrat, was fotografisch an den Wänden des Gewölbes unter der ehemaligen Hofapotheke festgehalten ist, kein alltägliches Ereignis. Lovano habe, so das Lexikon des Jazz, „sein umfassendes Können konsequent und in unterschiedlicher stilistischer Umgebung so weit entwickelt, dass er die Geschichte seines Instruments auf einen eigenen Nenner gebracht“ habe.
Wichtig für ihn und für sein seit 2018 bestehendes Trio Tapestry sei, sagt er, dass die drei beteiligten Musiker nicht nur zur gleichen Zeit spielen, sondern dabei gemeinsam Musik erschaffen, also Musik innerhalb der Musik entstehen lassen. Für diesen Zweck hat er sich die Pianistin Marylin Crispell und den Schlagzeuger Carmen Castaldi mit ins Boot geholt. Erstere gilt als zentrale Pianistin der Strömungen des Modern Creative und der Neuen Improvisationsmusik innerhalb des Jazz, Castaldi spielte bereits seit Ende der 90-er Jahre immer wieder in verschiedenen Formationen mit Lovano zusammen.
Beim Konzert in Neuburg dreht sich bis auf Wayne Shorter’s „Lady Day“ und John Coltrane’s „Brasilia“ alles um die Stücke der drei mittlerweile erschienenen Alben des Trios. Jedoch sind nicht nur die von zentraler Bedeutung für das gut zweistündige Konzert in Neuburg, sondern auch musiktheoretische Erwägungen, das spirituelle Element in Lovanos Stücken und in seiner Ausdrucksweise, die fließende Lyrik, die selbige oftmals charakterisiert, und die Art und Weise, wie hier drei absolut gleichberechtigte Partner völlig autark agieren, gleichzeitig aufeinander reagieren und schließlich zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Das Trio Tapestry hat immer den Horizont im Visier, an den es gelangen, an den es sich spielerisch herantasten kann, wobei man auch bereit ist, ihn rhythmisch, melodisch und harmonisch zu überschreiten, Neuland auszukundschaften und dort seinen Fußabdruck zu hinterlassen.
Das geht nicht mit den herkömmlichen Mitteln, zu denen Jazzmusiker üblicherweise greifen, dazu bedarf es einer veränderten Linguistik, eines aus dem Augenblick heraus neu zu entwickelnden Vokabulars, das natürlich nicht unbedingt jedem Publikum sofort und automatisch geläufig sein kann. Vielleicht erklärt sich so, dass man sich in der ersten halben Stunde noch schwertut, die Richtung zu erkennen, in die das Konzert sich entwickeln könnte. Spätestens mit dem Titelstück des aktuellen Albums „Our Daily Bread“ aber wird man eingesponnen in das poetische Kraftfeld dieser Musik, greift – natürlich nur, sofern man sich überhaupt auf derlei einlassen kann – die spirituelle Magie Besitz von einem, ist man gefangen von der maximalen musikalischen Freiheit, die sich das Trio zugesteht. Und weil das alles scheinbar ohne jegliche Kraftanstrengung von Seiten der Musiker vonstatten geht, die in jeder Sekunde spürbare Intensität dafür aber um so mehr mit höchster Konzentration und tiefen Gefühlen zu tun hat, hallt das Konzert auch so lange nach und führt einmal mehr zu der Erkenntnis, dass Lovano’s Ruf von der ungeheuren Substanz in seinem Schaffen herrührt, nicht von irgendwelchem vordergründigem Brimborium. Ein denkwürdiges Ereignis.