Joanne Brackeen Quartet feat. Ravi Coltrane | 20.10.1995

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Wer zählt die Akkorde, nennt die Tonarten, wer definiert die Stile, unterscheidet die Tempiwechsel? Ihre fast schon charakteristische Unberechenbarkeit hat Joanne Brackeen in der Weltliga der Jazzpianisten den Ruf eines wahren Naturereignisses auf der Bühne eingebracht. Konzerte mit ihr besitzen den verwirrenden Genußwert einer Achterbahnfahrt, gespickt mit allen unterhaltungsfördernden Raffinessen, sprich: den Geheimnissen, welche die moderne Musik in diesen Tagen eben so bietet.

Doch Vorsicht: allzu entspanntes Zurücklehnen im Wohlgefühl des Erlebten wird von der Hauptperson prompt mit einem barschen Sprung in eine andere Gefühlsdimension bestraft. Der 57jährige Paradiesvogel liebt es nämlich gar heftig, seine Zuhörer in Wechselbäder des Empfindens zu tauchen. Auch das Publikum im Neuburger Birdland blieb von solcherlei frechen Experimenten am vergangenen Samstag selbstredend nicht verschont, wobei freilich überaus angenehm auffiel, daß Joanne Brackeen nie ihre glänzende Technik, ihren harten Swing und ihre übersprudelnde Phantasie als billiges circensisches Blendmittel einsetzte. Die Summe ihrer Musik wirkt vielmehr wie ein tanzendes Mobile, bei dem sich laufend die Schwerpunkte verschieben.

Daß bei all den ausgeklügelten Arrangements die Mitmusiker eine stärkere Rolle als in vielen anderen Bands spielen, wurde nicht zuletzt durch die spektakuläre Besetzung des Tenorsax-Parts deutlich. Kein geringerer als Ravi Coltrane, der Sohn des wohl bedeutendsten Jazz-Saxophonisten aller Zeiten, John Coltrane, besaß die (undankbare?) Aufgabe, dem ecken- und kantenreichen Vortrag der Kalifornierin einen stimmigen Kontrapunkt entgegenzusetzen. Während noch 1993 der hochtalentierte Javon Jackson an der skurillen Brackeen fast verzweifelte, tat sich Coltrane junior leichter mit seiner Leaderin.

Sicherlich mag ihm dabei auch seine (durchaus an den großen Vater erinnernde) Art, ein Thema zu sezieren, aufzudröseln und kadenzweise zu erhöhen, entgegengekommen sein. Mit einem allerdings durchaus eigenen, warmen Ton ausgestattet, versuchte Coltrane nicht, der Pianistin zu folgen, sondern vielmehr eigene Linien freizulegen. Beispielsweise bei den bunt-schillernden Eigenkompositionen „In Rome“ mit ausladend weiten, lyrischen Bögen, dem verschrobenen Blues-Marsch „Power Talk“ oder den surrealistischen Klangkaskaden, die nicht von ungefähr nach den bekannten Malern „Picasso“ und „Miro“ betitelt wurden.

Bemerkenswert auch noch die ungemein reichen erzählerischen Fähigkeiten von Brackeen und ihrer Band, die durch den einfühlsamen Freiburger Bassisten Dieter Ilg sowie den zuverlässigen Tony Reedus am Schlagzeug eine perfekte Ergänzung erfuhr. „Pink Elephant Magic“ oder die Story einer Frau, die zum Einkaufen geht, über der dann jedoch im allgemeinen Chaos die gesamte Warenpalette zusammenbricht, sind solche akustischen Miniaturen voller lieblicher Naivität.

Am eindrucksvollsten wirkte die Tastenkünstlerin im Hofapothekenkeller jedoch bei ihren beiden Solodarbietungen, einem fröhlichen Stride und einer einfühlsamen Ballade. Denn wenn überhaupt jemand imstande scheint, mit Joanne Brackeen pausenlos Schritt zu halten, dann allerhöchstens sie selbst.