Enrico Pieranunzi | 20.10.1995

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

(Tag unbekannt!)

Den Habitus des vergeistigten Universitätsprofessors wird er trotz des leger geknöpften Sakkos nie ganz los. Alles, was der Italiener Enrico Pieranunzi anpackt, betreibt er mit größtmöglicher Sorgfalt und Akribie: die Vorbereitung seiner Sets, das Öffnen des Flügel, das Sortieren der Noten, die Ansagen und vor allem die Struktur seines Spieles. Wer jedoch hinter den Darbietungen des 44jährigen Römers bei seinem mittlerweile zweiten Konzert im Neuburger Birdland Jazzclub allzu viel Wissenschaftliches befürchtete, den belehrte „die europäische Antwort auf Bill Evans“ (so die Zeitschrift „Jazzpodium“) geschwind eines besseren.

Herz, Seele und Poesie stehen beim Vortrag des Ausnahmepianisten trotz aller technischen Vollkommenheit eindeutig im Vordergrund. Denn woher sonst käme die immer wieder verblüffende Aussagekraft solch runderneuerter Standarts, wie „There`s no greater love“, das Pieranunzi gleich zum Auftakt im nicht ganz vollen Hofapothekenkeller kredenzte, oder „I hear a Rhapsody?“ Einem leisen, einfachen Intro folgen gar hasadeurhafte Verfremdungen des Themas bis hinein ins atonale, freie Musizieren, ohne freilich manch harmonieverwöhntes Ohr über Gebühr zu strapazieren.

Einem Maler gleich zieht er an der Tastatur einen weiten Bogen von Claude Debussy, dem schwelgenden Romantiker, über Lennie Tristano, dem kühlen Forscher, bis hin zu Cecil Taylor, dem wütenden Zerstörer. Wer Enrico Pieranunzis geistreichen Erzählungen in Noten folgen will, wähnt sich manchmal wie im Schlepptau eines Träumers, eines Himmelsgleiters, der keine Scheu besitzt, auch in tiefe Abgründe hinabzublicken. Improvisation heißt das simple Zauberwort, und zwar auf höchster Ebene.

Die Struktur eines Songs wird vollkommen seziert, um sie anschließend genußvoll in den Ursprungszustand zurückzuversetzen. Auf einer immer transparenten, rhythmischen Basis gebettet, entsteht dabei nie Langweile, ganz selten jedoch das Gefühl, daß der Spannungsbogen mitunter auch überdehnt werden könnte (zum Beispiel in „The Night comes by“). Aber der emotional aufwühlende, gut zweistündige Parforceritt über die 88 Tasten erfordert halt auch so manches Opfer.

Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß Enrico Pieranunzi zum 25. Jubiläumskonzert der Birdland-Reihe „Art of Piano“ ein völlig neues Trio mit an die Donau brachte. Die Mannschaft, mit welcher er noch 1991 in Neuburg für einen wahren „Dampfhammereffekt“ sorgte, ist der etwas abwägenderen Rhythmussektion Piero Leveratto am Kontrabaß und Mauro Beggio am Schlagzeug gewichen. Leveratto, ein kreativer, einfallsreicher Großtöner, und Beggio, der trotz seiner erst 25 Jahre schon trefflich die Stimmung einer Ballade an den Becken erfassen kann, verstehen sich jedoch gleichwohl glänzend im feinnervigen, interaktiven Musizieren.