Jim Hall – Enrico Pieranunzi Duo | 01.10.2004

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Der Angriff auf die rechte Großhirnrinde beginnt zurückhaltend. Erst ein paar Akkorde, klirrend, scheppernd, mitten in den Raum gestellt. Dann entwickelt sich langsam, ganz langsam das Fragment eines Songs mit Strukturen so komplex wie ein Spinnennetz, aber so eingängig, dass jeder Fuß im Auditorium mitwippt. Und vor allem ist es leise im Neuburger „Birdland“. Mucksmäuschenstill.

Es müssen schon Instrumentalisten von der Klasse eines Jim Hall und Enrico Pieranunzi sein, die es sich erlauben können, fast bis an den Rand der Unhörbarkeit zu spielen und so das Publikum zu zwingen, noch flacher zu atmen, noch besser mit allen Sinnen dem Gebotenen zu folgen. Die Fotografen trauen sich nicht mehr, ihren Auslöser zu betätigen, Bedienungen bleiben wie angewurzelt mit vollem Tablett stehen, aus Angst, eine akustische Katastrophe zu verursachen. Selbst mit bloßem Hüsteln würde man jetzt nur gnadenlos auffallen.

Diese Musik kommt auf Zehenspitzen daher, braucht keine Verstärker oder billige Noise-Effekte, um die Menschen zu erreichen. Selbst Pieranunzi, der Tasten-Impressionist, stülpt seinem legendären Samtpfötchen noch einen imaginären Handschuh über, als wolle er jede Nuance, den winzigen Halbton und sogar die vorbei fliegende Viertelpause zelebrieren. Dass er und Jim Hall, der 73-jährige Nestor der modernen Gitarrenlehre, sich zu einem der ungewöhnlichsten Duos der Gegenwart zusammengefunden haben, ist wie ein introvertierter Protest gegen all das grelle Blendwerk, gegen die Fassadenmusik, die viel vorgaukelt, aber so gut wie nichts dahinter verbirgt. Ein Fanal für die Schönheit. Das stille Labor des Jazz.

Selbst eine romantische Ballade wie „My funny Valentine“ wird für die beiden zum Reagenzglas, in dem sie Tempi, Noten in verschiedener Konzentration zu einer unbekannten Legierung anrühren. Ab und an fliegen noch vertraute Melodiefetzen umher, rhythmische und melodische Fragmente, entkernte Standards. Doch dies ist längst kein Grund, sich heimisch zu fühlen. Hall modelliert urplötzlich aus dem Nichts heraus Countryskulpturen, Pieranunzi marschiert direkt in den Blues hinein, bis sich der Amerikaner und der Italiener in völlig freies, keineswegs sperriges Spiel trudeln lassen. Ein unaufhörliches Suchen und Finden. Das Überraschungsmoment als einzige Konstante. Als würde all die großen Songs wie „Oleo“ an diesem besonderen Abend neu geboren.

Jim Hall beginnt stets, als ob er nicht wüsste, was er als Nächstes intonieren soll. Klampfend, scheinbar ratlos reißt er an den Saiten, bis nach ein paar Sekunden irgendwo das Thema hervor lugt, Wie ein kleiner Junge jongliert er es dann zwischen den Tonarten wie Ping-Pong-Bälle, probiert aus was geht, während Pieranunzi große Basskugeln unterschiebt. Irgendwann rutscht dem Altmeister dann die „Marseillaise“ heraus, und als das Publikum sich kurz zu lachen traut, salutiert er stramm.

Zwei Freigeister, Künstler, die sich niemals einsperren lassen und deren Vorstellung von Freiheit auch für das Publikum gilt: freies, normenloses Hören – und Denken. Ganz zum Schluss spricht Hall von den Friedensmärschen in Italien, Südkorea, Frankreich zu Zeiten des Irakkrieges, verwendet das deutsche Wort „Dummkopf“ beim Thema „Bush“ und sagt etwas, das für ihn, Pieranunzi und den Rest der Welt als Leitmotiv taugen könnte: „Nur zusammen können wir die Dinge wirklich bewegen.“ Danach noch eine Zugabe voller Programmatik: „Dream Steps“. Thank you und mille grazie für einen unglaublichen Abend.