Der Mann ist ein Poser, nicht nur von der äußeren Erscheinung, sondern auch am Instrument. Wenn Jerry Weldon sein Tenorsaxofon ansetzt, um eines seiner elegischen Soli zu blasen, dann verbiegt sich der ganze Körper. Bei ihm wirkt Jazz tatsächlich noch wie harte, schweißtreibende Männerarbeit, eine Mixtur aus purer Kraft und urwüchsiger Virilität. Sein Spiel bietet einen mächtigen Umgriff von der beweglich-gehauchten Phrasierung eines Coleman Hawkins bis zum brüsken Zerhacken der Melodie in einzelne Fragmente, wie dies Sonny Rollins praktizierte. Das wirklich Wertvolle an Weldons Debüt im Neuburger Birdland-Jazzclub droht fast angesichts der Wucht des Power-Saxofons zu verblassen: Der 67-Jährige präsentiert eine feine Auswahl von eher selten gehörten Standards, die zwar jeder irgendwoher kennt, die man aber auf Anhieb nur schwer mit einem konkreten Titel in Einklang bringen kann.
„I Told You So“ von George Cables ist eines dieser Juwelen, „One For Amos“ von James Williams, „Skylark“ von Hoagy Carmichael oder „Cheese Cake“ von Dexter Gordon andere. Und dann erklingt im zweiten Set plötzlich auch wieder das elektrisierende „Hi Fly“ von Randy Weston, der seinen Blues-Ohrwurm höchstpersönlich noch vor 23 Jahren im Neuburger Hofapothekenkeller in die Gehörgänge der Stammgäste eingepflanzt hatte.
So etwas hebt selbst tausendmal gehörte Hardbop-Mucken aus dem Sumpf der allgemeinen Mainstream-Beliebigkeit hervor. In der Tat will Jerry Weldon, ein Urgestein der New Yorker Jazzszene, sein Publikum nicht mit einer Business-as-usual-Performance langweilen, sondern ihm einen anregenden, einen besonderen Abend schenken, der alle Ingredienzien dessen enthält, was Jazz nun mal einzigartig erscheinen lässt.
Jerry ist ein lupenreiner Hotblower im allerbesten und traditionellsten Wortsinn. Ein Heizer, den man als Energiequelle am liebsten auf eine Dampflokomotive verpflanzen möchte – wenn es denn überhaupt noch Dampfloks gäbe. Denn im Prinzip ist diese Art des Saxofonspiels schon ein wenig aus der Zeit gefallen, in der es vor allem um einen bündigen Ensembleklang geht. Seine instrumentalen Intermezzi hingegen beschränken sich keineswegs nur auf kurze Einschübe, sondern beanspruchen viel Raum, weil Weldon einfach jedes Solo minutenlang durch alle Register seines Horns jagt. Und er ist, gelinde gesagt, gut zu hören, platziert seinen lauten, nicht selten donnergrollenden Ton wuchtig und fordernd an der Spitze jedes Themas. Man kann das mit Muskelspielen am Saxofon vergleichen, ein Umstand, der eben auch leiseren Nummern ein wenig die Substanz entzieht.
Dass sich der Abend im einmal mehr ausverkauften Birdland-Gewölbe dennoch nicht in eine Einbahnstraße bewegt, liegt vor allem an der enorm flexiblen Begleitcombo. Natürlich muss sie in erster Linie ihrem Herrn und Meister dienen. Aber der exzellente, junge Pianist Julian Schmidt – die eigentliche Entdeckung des Konzerts – lässt viele Läufe wie süffigen Champagner auf die Tasten des Bösendorfers perlen, während Bassist Giorgos Antoniou und Drummer Xaver Hellmeier sowie schon immer als Synonym für grundsoliden, erdigen „Swing“ galten.
Dank ihrer musikalischen Empathie beginnen sogar unscheinbare Balladen zu leuchten und lawinenartige Groove-Nummern zu knistern. Wie bei der Zugabe „Hey Bob-A-Rebop“: Hier huldigt Jerry Weldon seinem früheren Chef Lionel Hampton und demonstriert einmal mehr, wie kollektives Mitklatschen und losgelöster Echo-Gesang auf Knopfdruck funktionieren können. Trotzdem bleibt es in der Substanz ein knackiger Blues, interpretiert von einer wie geschmiert funktionierenden Band. Jazz, wie man ihn sich gerne vorstellt!