Jean Michel Pilc Trio | 08.11.2002

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Das muntere Jazztage-Kontrastprogramm, nur 20 Kilometer entfernt: Ein Flügel, ein Bass, ein Schlagzeug, ein nahezu voller Neuburger „Birdland“-Jazzclub und vielleicht die Antwort auf alle Fragen um die Zukunft dieser Musikrichtung.

Als der französische Schriftsteller Boris Vian einmal sagte, man solle deshalb die Sprache des Jazz erlernen, weil sie wesentlich leichter als Chinesisch sei und ungeahnte Wonnen bereite, da lieferte er die richtige Gebrauchsanweisung für die Handhabung dieses heiligen Blödsinns. Und er spürte wohl auch, dass 40 Jahre später sein Landsmann Jean-Michel Pilc das ganze Fachchinesisch einfach über Bord werfen, Überliefertes destillieren und einen völlig neuen Extrakt zusammenbrauen würde. Nach wie vor Jazz und nicht improvisierter Rock wie Esbjörn Svensson, keine entrückte, vergeistigte Innerlichkeit à la Brad Mehldau und mit beiden Beinen in den Sümpfen des Blues watend, anstatt in den Weiten des musikalischen Kosmos verschwindend.

Der Pianist Pilc und seine beiden seelenverwandten Kumpane Francois Moutin (Kontrabass) und Ari Hoenig (Schlagzeug) sind schlicht und einfach ein Naturereignis. Mit pyrotechnischem Charme und immenser Erfindungskraft dekonstruieren sie altbekannte Standards und schaffen damit eine völlig neue Lesart der ältesten Gruppenform des Jazz: Ein Trio ist ein Ding, das sich unaufhörlich dreht. Einmal galoppiert Pilc einfach mit der einen Hand auf dem Basskorpus, mit der anderen auf der Snare-Drum und pfeift die Melodie dazu, während Hoenig sich rhythmisch auf Brust und Oberschenkel klopft und Bassist Moutin in den Eingeweiden des Flügels zupft.

Alles wirkt so herzerfrischend anders, fast schon befreiend. Allein die erlebbare Kommunikation der drei wäre schon das Eintrittsgeld wert. Wenn der Mann am Klavier seinem Schlagzeuger einen frechen perkussiven Riff zuschleudert, Hoenig diesen Ball in Form eines rasanten Marchingdrum-Einsatzes aufnimmt, mit einem eleganten triolischen Absatzkick zum Bass weiterleitet, dieser das Thema wie angestochen höher und höher schraubt und plötzlich in eine völlig andere Richtung laufen lässt, dann ist das ganz große, spontane Kunst.

Die Instrumente agieren wie in einem Diskussionszirkel: Statements, Kürzel, Ausrufe, Monologe fliegen durch den Raum. Früher hätte man so etwas – ratzfatz – als Freejazz gebrandmarkt und in der Ecke des Ungenießbaren abgelegt. Doch bei Pilc, Moutin und Hoenig herrscht eine tiefe innere Ordnung, in der nie etwas auseinander driftet, sondern jede Note, jeder Schlag zueinander finden. Anstatt Soli gibt es nur Einsätze, die organisch wachsenden Songs pflügen sich von Höhepunkt zu Höhepunkt, kehren in Hochgeschwindigkeit oder atemloser Slow Motion das Oberste nach unten und das Innere nach außen.

Pilc` Pianistik ist von unnachahmlicher Delikatesse; gläsern wie zerbrochene Sterne in „Stella by Starlight“ oder mit der sturen Monotonie einer Cluster-Nähmaschine im monumentalen „Trio Sonata“. Wenn Hoenig sogar das Thema von „Softly as in a Morning Sunrise“ auf den Fellen (!) spielt und Moutin seinen Bass über die lodernden Kaskaden des Klavier schiebt, dann brennt die Bühne lichterloh und das Publikum rastet – eigentlich untypisch für einen Jazzclub – völlig aus. Das vielleicht beste „Birdland“-Konzert des Jahres. Und eine Alternative, auf die nicht bloß Boris Vian schon lang gewartet hat.