Es fließt. Wie eine Welle drängt die Band nach vorne, unablässig auf- und abebbend, kraft- und druckvoll, sanft und aufbrausend. Und ganz oben thront die Gischtkrone: Hugo Siegmeth.
Dass der Mann Tenorsaxofon spielen kann, haben die Stammgäste des Neuburger „Birdland“-Jazzclubs schon im Dezember 2000 erfahren dürfen. Er gehört zu jenen aus der Zunft, die – wie man so gerne abgedroschen bramarbasiert – „Geschichten erzählen können“. Dennoch schafft dieser feine, ungewöhnliche Jazzmusiker im Hofapothekenkeller weit mehr als nur das. Sein Spiel atmet neben all den bekannten verbalen Licks, dem ganzen Vokabular der Sax-Sprache, die ein guter Vertreter seiner Zunft nun eben mal beherrschen muss, eine unverkennbare Emotionalität, eine ganz spezielle Stimmung, dominiert von Farben und Temperaturempfindungen, von wohligem Kribbeln und einer seltsamen Vertrautheit. Wenn Hugo Siegmeth ins Horn stößt, dann klingt das wie Nachhausekommen.
Dieses Gefühl kann der 35-Jährige deshalb so authentisch vermitteln, weil er es sich selbst in mühevoller Kleinarbeit zurückgeholt hat. Geboren im rumänischen Arad, kam Siegmeth schon mit sieben Jahren München, spricht breitestes Bayerisch und verdrängte im Laufe der Zeit immer mehr, wo seine Wurzeln liegen. Seit er sich jedoch wieder gen Osten orientiert, bewusst slawische Harmonik und Rhythmik einsetzt, atmet seine Musik mehr Offenheit und hat den letzten Rest von jener Beliebigkeit verloren, der vor allem Neobop-Formationen deutschen Zuschnitts leider allzu oft anhaftet.
Dabei dienen Fünf-Viertel-Takt oder Zigeunermoll nie als folkloristische Staffage. Siegmeth und sein verblüffend kongruentes Ensemble setzten sie nur ein, um eine ganz bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. Eigentlich wäre dies auch ein Fall für den vielleicht derzeit interessantesten Pianisten der Republik, Michael Wollny, gewesen. Der junge Würzburger, erst vor drei Wochen zu Gast in Neuburg und noch tags zuvor mit dem Bayerischen Kunstförderpreis 2005 ausgezeichnet, musste kurzfristig absagen. Leider? Der als Ersatz mitgekommene Carsten Daer war weit mehr als ein solcher. Ein Mann, der doch vor kurzem tatsächlich die Stirn besaß, Ralph Siegels Trallala-Schlager in den Dialekt des Jazz zu übersetzen, drückt dem Konzert mit perkussiven Singlenotes und perlenkettenartigen Läufen unverkennbar seinen Stempel auf.
Von Daer gehen fantastische Impulse auf das Quartett um den ungemein beweglichen Bassisten Hennig Sieverts sowie den unmittelbar am Puls agierenden Drummer Bastian Jütte aus. Auch der Saxofonist weiß das trefflich aufzugreifen. In der „Suita Romaneasca“ lässt er die Kapelle am äußersten Rand des Espressivos vibrieren, bevor er eine radikale Kehrtwendung ins Innerliche vollzieht. Das klingt, als wäre es das Einfachste der Welt: Diese flimmernden Coltrane-Rubatos, der heiße Webster-Atem, die ungeraden Takte, die verzwickten Wechsel, die überfallartigen Lautverschiebungen und die radikalen Stimmungsschwankungen. Es reißt einen mit. Vielleicht ist es ja einer wie Hugo Siegmeth, der die lang erwartete neue Jazzwelle in Deutschland auslösen kann.