Als alles mit einem vollreifen, beschwingten Finale rechnet, bringt der Pianist Richie Beirach die Realität zurück in den Hofapothekenkeller. An jenem Tag, an dem auch Deutschland die Angst vor Milzbrand erreicht hatte, hält Beirach urplötzlich inne und beginnt zu erzählen.
Vom 11. September, als er vom Fenster seiner Wohnung in Manhattan aus beobachtete, wie die Türme des World Trade Center einstürzten („Das Schlimmste, was ich jemals sah“). Von den 6000 Menschen und den unzähligen Hoffnungen, die unter den Trümmern begraben wurden. Und von der Musik, die nun eine völlig neue, stärkere Bedeutung für ihn erlangt habe. „Wir müssen wieder zuhören, aufeinander hören, achten.“ Atemlose Stille im Auditorium.
Dann beginnt Beirach zu spielen. Das Intro seiner alten Komposition „Leaving“: Eine ergreifende, schmerzliche Elegie bar jeglichen Kitsches, die langsam und ganz behutsam von der Band in einen erzählenden, fast poetischen Gestus umgewandelt wird. Noten transformieren verwirrte Gefühle, tief sitzende, aufgewühlte, noch immer nicht verarbeitete Emotionen. Jeder im Neuburger „Birdland“-Jazzclub zeigt Wirkung, manche vergraben ihren Kopf zwischen den Händen, beeindruckt und fassungslos von der ungeheueren kreativen Kraft des untersetzten kleinen Mannes mit dem strähnigen langen Haar und dem grauen Vollbart.
Richie Beirach ist ein besonderer Pianist. Kein Jazzmusiker im üblichen Sinn, für den ein Bündel praller Akkorde als Mittel den Zweck heiligt. Der 54-jährige denkt mit Hilfe der schwarz-weißen Tasten, er artikuliert sich über sie. Und er baut Brücken. Zwischen Bebop und Bartok, Amerika und Europa, Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Swingfans und Opernanhängern. Überhaupt zwischen den Menschen. Denn für Beirach beginnt die Intoleranz bereits bei den Stilgrenzen.
So sucht er in jedem Stück dessen verlorene Unschuld, durchforstet es nach Zwischenräumen und ungespielten Variationen. Beispiel: Die Edelballade „Alone Together“, die er mit dem Quartett des hochtalentierten Würzburger Tenor-/Sopransaxofonisten Hubert Winter in die modalen Straßenschluchten einer Großstadt zurückwirft. Bassist Dietmar Fuhr streicht sein Instrument wie ein flehendes Cello, Winter erwischt auf Anhieb diesen trüb-nebligen, knorrigen Unterton, während Drummer Bill Elgart wie ein Metronom tickt, bevor Beirach diese Tristesse in Moll mit einem hinreißend groovenden Befreiungsschlag auflöst.
Wenn der Professor an der Uni Leipzig schwitzend übers Elfenbein galoppiert, sich von der eigenen Power immer wieder aus dem Klaviersessel lupfen lässt und mit dem Fuß unentwegt wippt, dann nährt er sich in erster Linie von der Disziplin seiner klassischen Ausbildung. Diese lehrte ihn, mit der linken Hand stur seinen eigenen Rhythmus zu halten, um der Rechten so alle Freiräume aufzureißen. Kurze, morseähnliche, ostinate Figuren oder große Pausen münden in sintflutartige Läufe oder gewitterähnliche Cluster.
Und wer bislang nur darüber rätselte, warum dem Anschlag eine derart große Bedeutung beigemessen wird, dem demonstriert es der Tastenvirtuose spätestens in Themen wie „Boston Harry“ oder „Paradox“. Dabei entsteht auf ganz natürliche Weise Autorität, die ihn die Dynamik jeder Band regeln lässt, ihm Kontrolle über Stimmungen, Abläufe und insgeheim auch über seine Mitmusiker verleiht. Richie Beirach weiß wie kein Zweiter mit diesen Möglichkeiten umzugehen. Er benützt sie nicht um der bloßen Macht Willen, sondern um etwas zu bewegen. Die Musik, die Menschen, die Welt.