Hiromi Uehara | 10.10.2003

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Also, inszenieren ließe sich so ein geniales Finale niemals. Dieser punktgenaue Aufschlag eines Pilsglases just in dem Moment, da Hiromi ihren Parforceritt über die Tasten beendet hat.

Wie die wilde Jagd ist das Energiebündel nur Sekunden zuvor bei der zweiten Zugabe „I´ve got Rhythm“ über die Tasten geflogen, von Takt zu Takt scheinbar schneller werdend und trotzdem diesen verrückt-virtuosen Mix aus Stride, Boogie, Bop, Slapstick und kindlich Naivität aufs Elfenbein hexend. Als dann wirklich die letzte von etwa 3000 Noten gespielt ist, da klirrt just in der selben Sekunde das Trinkgefäß, als würde es ein enthusiasmierter Russe vor Freude an der Wand zerdeppern. Und das 23-jährige Riesentalent steht ob dieses dramaturgischen Glückgriffes verlegen daneben und lächelt.

In diesem Moment weiß die kleine Japanerin auch, dass sie letztlich doch gewonnen hat bei ihrem Konzertdebüt in einem der wichtigsten Jazzclubs Europas, dem Neuburger „Birdland“. Und dass sie nun sogar all jene auf ihre Seite bringen konnte, die noch nach einem uninspirierten ersten Set völlig zu Recht die Nase rümpfen und von einem künstlichen Fixstern der Plattenindustrie sprachen, der schon zu verglühen beginnt, bevor ihn überhaupt jemand richtig wahrnehmen konnte.

Hiromi Uehara aus Shizuoka war mit den Empfehlungen eines Chick Corea sowie eines Ahmad Jamal auf den Kontinent gekommen, hatte zunächst aber nur verunsichert. Ein wahlloser Tastenkauderwelsch, eine Technik irgendwo zwischen Brubeck, Loussier und Horowitz, die fast penetrante auf- und abebbende Struktur, pendelnd wie eine Standuhr, alles fröhlich, modisch, exaltiert, übermotiviert, zeigefreudig. Wie junge Leute eben an wichtige Dinge herangehen: Seht her, was ich alles kann!

Zu allem Überfluss kamen dann noch Hiromis völlig überflüssige, quietschend-breiige Intermezzi am Keyboard, Songs mit seltsamen Titeln wie „010101 (Binary System)“ sowie eine wahre Nabelschau der U-Musik. Ganz zu schweigen von den beiden rüden Spießgesellen Tony Grey (E-Bass) und Martin Valihora (Drums) die ihrer Chefin so manchen Bärendienst auf dem mühsamen Weg zur Selbstfindung erwiesen.

Freilich: Nach der Pause scheint die Nervosität wenigstens halbwegs abgebaut. Hiromi kämpft sich nach und nach ihren Weg frei, schält langsam ihr ureigenes Profil aus dem Kokon von Stilen heraus. Was zuvor hingehuscht klang, entpuppt sich mit einem Mal als zauberhafte fernöstliche Harmonik, angereichert mit kunstvollen rhapsodischen Bögen, vielen dramatischen Elementen und erstaunlich großen Gesten. Immer wieder hebt die eigene Dynamik das zierliche Persönchen aus dem Klavierhocker. Im Stehen drückt sie ihre verwegenen Improvisationen in die 88 Tasten, ersinnt tief emotionale Notengedichte von erstaunlicher Substanz in den Farben ihrer japanischen Heimat („Joy“), um sich dann scheinbar entrückt wieder in ein simples, fast banales Thema zurückfallen zu lassen.

„Das ist meine Vorstellung von Mathematik“, beschreibt Hiromi flüsternd ihr erst jetzt durchschaubares Wirrwarr, das die komplizierte Logik von auf dem Boden liegenden Glasscherben besitzt. Vom Jazz traditioneller Prägung ist längst keine Rede mehr. Hiromi macht zwar höllisch Dampf, swingt aber niemals richtig. Sie bleibt, schon vom Anschlag her, eine Klassikpianistin, die irgendwann aus dem engen Geviert ihres Genres ausgebrochen ist. Mithin aber auch ein Riesentalent, das irgendwann wieder eingefangen werden will.