Der trendbewusste Jazzfan liebt moderne Mixturen und verabscheut altertümlichen Swing. Was wären wir bloß alle ohne unsere Scheuklappen? Womöglich fänden wir auf einmal gleichermaßen vorbehaltlos so völlig konträre Saxofonisten wie John Zorn oder eben jenen Harry Allen gut, der sein Handwerk nun auch im Neuburger „Birdland“-Jazzclub zur Schau stellte.
Aber da beginnt schon der Konflikt: geht einer, der für funk-, punk-, dub- oder sonstwas-lastigen Jazz schwärmt, überhaupt in ein Konzert, in dem ollen Kamellen von Ellington, Gershwin oder Jobim auf dem Programm stehen? Kaum, weil sich heute niemand mehr für Wurzeln interessiert. Hauptsache es rappelt anständig im Hier und Jetzt. Dabei böte gerade die Band dieses 33-jährigen Wunderknaben aus Washington D. C. jede Menge Gelegenheit für höchst aufschlussreiche Parallelforschungen. Mit allerhand Professionalität und noch mehr Herzblut interpretiert sie edle Preziosen des Great American Songbooks. Klar: der Stoff ist hausbacken. Aber die Spielweise der vier klingt erstaunlich frisch, ungeheuer engagiert, manchmal sogar gegen den Strich gebürstet, und liefert einen verbindlichen Orientierungspunkt, wie Mainstream im Jahr 2000 klingen soll.
Das, was ein Wynton Marsalis trotz öffentlichkeitswirksamer Manifeste zur Wiederbelebung des „echten“ Jazz noch nie erreicht hat, gelingt Allen schon nach wenigen Takten: Ein Stück unverbrauchte Originalität zu schaffen, ohne gleich in die beliebte Retro-Kiste zu greifen. Der fixe Tenorist hat sich nicht etwa einen gefahrlosen Pianisten an die Seite gestellt, sondern duelliert sich bei offenem Visier mit einem mindestens gleichwertigen Partner an der Gitarre: Joe Cohn.
Der (noch) relativ unbekannte Sohn des großen Saxofonisten Al Cohn gehört zu jener Spezies von Hoffnungsträgern, die es verstehen, mit einem einzigen Lauf betonharte Krusten zu sprengen. Er führt einem plastisch vor Ohren, wie ein Klavier manchmal einen Bläser in flauschig-dicke Watte packt und ihm langsam aber sicher die Luft zum atmen nimmt. Dagegen diese halbakustische Fender: Wie ein drahtiger Zehnkämpfer hangelt sie sich um den warmen Ton des Saxofons, macht eine Rolle vorwärts, schlägt dann einen Salto, hüpft drüber, kriecht darunter, sprintet kurz vorbei, schlägt mutige Breschen und sorgt für ein Höllentempo. Die gertenschlanke Variante des Swing.
Was dieser Joe Cohn mit seinen halsbrecherischen, atemberaubenden Grifffolgen vorlegt, kontert Harry Allen mit einem Konglomerat aus Geschmack, stilistischer Souveränität und Leidenschaft. In seiner Tongebung mehr an Stan Getz denn an Ben Webster erinnernd, produziert er jene Menge perlender Motivketten in allen Größenordnungen und Farbnuancen, von butterweich bis messerscharf. Mit kongenialer Assistenz des mächtig walkenden Bassisten Joel Forbes sowie des unauffällig, aber stets auf berühmten Punkten agierenden Drummers Tom Melito entwickeln sich so Titel wie „Fascinating Rhythm“, „Stan`s Blues“ oder „Mood Indigo“ zu einem bislang kaum erlebten Festival der Soli.
Die oft totgesagte Tradition feiert im Hofapothekenkeller fröhliche Auferstehung, und seltsamerweise wirkt alles erstaunlich gegenwärtig. Jeder Hippster käme bei diesem Groove unweigerlich zu dem Schluss: so weit liegen Gegenwart und Vergangenheit doch nicht auseinander.