Harry Allen & Hartmut Sasse Trio | 02.10.2021

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

The times, they are a-changing . . . zum Glück! Wer sich an Harry Allen noch als jungen, relativ unbekannten Saxofonist erinnert, der vor über 21 Jahren zum ersten Mal fast schüchtern die Bühne des Neuburger Birdland erklomm, der kann seine Entwicklung im nicht gerade mit einem Schlaraffenland zu vergleichenden Jazz-Business nur gutheißen. Im Laufe der Jahrzehnte hat da ein Musiker konsequent seine Vision eines zeitlos modernen Tenor-Sounds vorangetrieben, der zwar auf die markanten Attribute der Urväter Lester Young, Ben Webster oder Stan Getz fußt, aber um keinen Preis ein Retro-Vehikel sein will.

Es muss nicht immer leicht gewesen sein für den Mann, der in wenigen Tagen seinen 55. Geburtstag feiert und im Laufe seiner Karriere sogar als musizierender Schauspieler im Kino-Blockbuster „Schlaflos in New York“ reüssierte. Die ständigen Seitenhiebe auf den angeblich ewig Gestrigen nagten an ihm. Aus der Bahn haben sie Allen, den immer noch begnadeten Tenoristen aus Washington D. C., freilich nicht geworfen. Sein Wiedersehen im Hofapothekenkeller gestaltet sich jedenfalls als ästhetische Wohltat, als Labsal für Sinne und Ohren, gerade auch im zeitnahen Vergleich zu anderen Formationen, die hier gastierten und sich wie er der Mainstream-Variante des Jazz verschrieben. Bei Harry Allen, der mit seinem deutschen Freund, dem wunderbaren Kölner Pianisten Martin Sasse, dem Kontrabassisten Martin Schieferdecker sowie dem Schlagzeuger Joost van Schaik an die Donau gekommen war, funktioniert er noch, dieser instinktive Sensor für das Mögliche und Machbare, ohne sich dabei gnadenlos selbst zu überschätzen. Wenn die vier entweder ihre Originals oder Standards aus dem Great American Songbook intonieren, dann zelebrieren sie diese mit einem Höchstmaß an Verve, Empathie und uneitler Virtuosität.

Harry Allen und Co. gelingt schon nach wenigen Takten das Kunststück, ihren Vortrag mit einer Prise unverbrauchter Originalität zu würzen. Dazu greift die Combo tief in ihre Trickkiste und rückt alle Protagonisten entweder in beseelten Zweier-Intermezzi oder mit feinen solistischen Beiträgen ins Spotlight. So diskutiert der elegant gestaltende Martin Schieferdecker mithilfe seiner vier Saiten mit dem emotional-witzigen Saxofonisten, während Martin „Sässii“ (O-Ton Harry Allen) auch mal den Kontakt zu Drummer Joost van Schaik sucht und sich wie ein Turner um die swingenden Metren schlängelt: mit einer Rolle vorwärts in Singlenotes, einem Blockakkord-Salto, hüpfend, drehend oder schreitend. Die gertenschlanke Variante des Swing.

Warum diese vier miteinander fast perfekt harmonieren, einen warmen, kompakten und prickelnden Sound kreieren, wird erst nach und nach klar: Sie nehmen sich selbst nicht so wichtig. Im Mittelpunkt steht hier immer die Gruppe, ob in dem perlenden „Blue Skies“ von Irving Berlin oder im grandiosen „There Is No Place For Me“ aus der Feder von Harry Allen himself, einer herrlich unkitschigen Ballade, in der jeder gehauchte Ton aus dem Schalltrichter des Saxofons eine Aura von Einsamkeit, Schmerz und Resignation verbreitet, und die allemal das Zeug hätte, selbst zum Standard zu werden. Am eindrucksvollsten lässt sich dies wohl gegen Schluss nachempfinden, als alle vier zunächst in ein Thema einsteigen und dessen Melodie dann abwechselnd einzeln – auch mit dem Schlagzeug – weiterführen. „Sleep“ dagegen ist alles andere als ein Schlummerlied. Im berittenen Up-Tempo-Galopp durchmisst das Quartett lustvoll den Parcours aus lauter Harmonie- und Tonartwechseln; an Schlaf denkt da nur, wer zu tief ins Glas geschaut hat.

Bei geschlossenen Augen vermag man nachzuempfinden, warum diese Musik in den 1950er-, 1960er-Jahren so aktuell und hip gewesen sein muss – und immer noch ist. Das Geheimnis ist einfach zu erklären: Ehrliches und authentisches Handwerk von vier exzellenten Könnern, von denen Harry Allen als Primus inter pares mit seinen perlenden Motivketten in allen Größenordnungen und Farbnuancen von butterweich bis messerscharf sowie seinem sonoren durchdringenden Ton früher Eisberge zum Schmelzen gebracht hätte. Da dies heute der Klimawandel erledigt, muss er im Birdland eigentlich nur noch spielen und bezaubern. Und bitte unbedingt wiederkommen!