Gerry Mulligan Quartet | 06.05.1995

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

 

Der ewig als Kautz und Sonderling verschriene Superstar des Jazz offenbarte eine fast gänzlich unbekannte Seite: blendend gelaunt, entspannt und voll routinefremder Spielfreude. Wenn der Vergleich mit dem „Denkmal zum Anfassen“ nicht schon so abgegriffen wäre, hätte er bei den beiden restlos ausverkauften Konzerten der „lebenden Legende“ am Baritonsaxophon im Birdland-Jazzkeller durchaus sein Berechtigung besessen. Denn wann erlebt man schon einen, der ein Stück Musikgeschichte geschrieben hat, in einem solch intimen, ja fast familiären Rahmen?

Gerry Mulligan in Neuburg – diese Synthese scheint sich inzwischen in der Tat zu Jazzerlebnissen der ganz besonderen Art zu entwickeln. Bereits das erste Gastspiel des 68jährigen New Yorkers 1993 im Stadttheater besaß außergewöhnlichen Charakter, nicht zuletzt, weil der scheue, weißhaarige (und -bärtige) Ausnahmemusiker hier spontan Freunde fand. Dieser intensive Kontakt ermöglichte fast genau zwei Jahre später auch jene Sondergastspiele im Hofapotheken-Keller am vergangenen Wochenende, die sogar von der deutschen Fachpresse als fast sensationell eingestuft wurden, weil hinlänglich bekannt ist, daß Mulligan den Mief der einschlägigen Jazzclubs seit geraumer Zeit geflissentlich meidet.

Doch die Ottheinrichstadt und ihr bis nach Übersee bekanntes schmuckes Kellergewölbe lockten den immer noch wichtigsten aller Baritonisten vollends aus seiner Reserve. Spätestens seit Sonntag kurz vor Mitternacht und nach kaum endend wollenden Beifallsstürmen wird Gerry Mulligan deshalb vermutlich auch seine Einschätzung über die „besondere“ Atmosphäre von Jazzclubs zu revidieren wissen. Vergleiche mit seinem Stadttheater-Konzert drängen sich förmlich auf: die Distanz zur Bühne, das gehemmte Sich-Eingepfercht-Fühlen in den engen Sitzreihen, das jeden swingenden Fußwipper jäh abbremst, jede spontane emotionale Regung zunächst verstandesmäßig hinterfragt, existierten diesmal nicht. Stattdessen sprang schon nach wenigen Takten jener berühmte Funke über, den auch Musiker allzu oft vergeblich suchen, um zu absoluter Höchstform auflaufen zu können.

Daß Mulligan, der zusammen mit Miles Davis und Lennie Tristano als der Erfinder des in den 50er Jahren bahnbrechenden Cool Jazz gilt, mit den alten Etiketten nur noch wenig am Hut haben will, wurde schnell durch die Struktur seiner Kompositionen deutlich. Scharf akzentuierte Bopthemen wechselten sich mit lyrisch angehauchten, melancholisch leisen Balladen ab. Vor allem am zweiten Abend kam freilich seine neu entdeckte Liebe zu den Salsas und Bossas Brasiliens übermächtig zum Vorschein. Gerade hier verblüfft der heute 68jährige nämlich mehr denn je. Es grenzt – gelinde gesagt – an Zauberei, wie der hagere Yankee immer wieder sein brummendes, oft als klobig bezeichnetes Horn leicht, ja fast beschwingt durch die flirrende Hitze der Latinorhythmen tanzen läßt.

Von der Technik fast wie ein obertonreiches Tenorsaxophon geblasen, formt Mulligan mit brillanter Intonation betörende Linien voller Intelligenz, Ausdruckskraft und Magie. Der „Flyin` Scotsman“, „Lonesome Boulevard“, „Sun of Stairs“, „Noblesse“ oder der Titelsong seiner CD „Paraiso“ gerieten jedoch erst deshalb zu schmucken Jazz-Perlen, weil sich der Bandleader keinesfalls als Alleinherrscher gebärdete. In Gerry Mulligans künstlerischem Selbstverständnis nimmt die Gleichberechtigung eines jeden Gruppenmitgliedes einen enorm hohen Stellenwert ein, was Wunder bei solchen Mitmusikern! Sein Rhythmustrio, bestehend aus Ted Rosenthal (Piano), Dean Johnson (Kontrabaß) und Ron Vincent (Schlagzeug) gehört gewiß zum feinsten, was die amerikanische Szene derzeit zu bieten hat, und würde auch ohne den berühmten „Boß“ überall eine absolute Attraktion darstellen.

Zwei Konzerte der Superlative, die jeweils auch mit einzigartigen Geschenken Mulligans an seine Fans endeten. Während der Meister am Samstag zur allgemeinen Verblüffung urplötzlich am Klavierhocker für ein ausgedehntes Solo Platz nahm, stimmte er tags darauf als Zugabe seinen ersten Riesenhit „Walkin Shoes“ in einer genial-rührenden Version an. Selbst das jazz-infizierte New York hätte Neuburg unter Garantie um solche Finals beneidet.