Es gibt Momente, in denen eine Einsicht des französischen Philosophen Blaise Pascal, eines Zeitgenossen von René Descartes, besonders intensiv einleuchtet: „Denn, was ist zum Schluss der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All.“ Das Konzert von Geri Allen und Enrico Rava war so ein Moment. Fast ehrfürchtig gebannt erlebte das Publikum im Neuburger Birdland, wie weit das Universum der Musik ausgelotet werden kann, wie tief zugleich ihre Intensität das Innerste berührt.
Die in Detroit geborene Pianistin und der aus Triest stammende Trompeter zeigten auf denkbar hohem Niveau die Kunst des Zusammenspiels im Duo. These und Gegenthese, Statement und Unterstreichung, Aussage und Kommentar standen neben-, gegen- und miteinander in stetem Wechsel von Spannung und Harmonie. Geduldiges Hören mündete in entschiedene Sprache. Immer aufeinander bezogen brachten die beiden einander voran, inspirierten sich, nahmen Ideen auf, spannen sie weiter und warfen sich gegenseitig die Bälle zu.
Dabei hatten sie als ausdrücklich gemeinsam vorbereitete Stücke nur Ravas „Wild Dance“ und Antonio Carlos Jobims Bossa-Klassiker „Retrato Em Branco Y Preto“ dabei. Im Verlauf des Abends zeigten sie jedoch, welch großartige Plattform die Standards des Jazz sind, Nat King Coles „Nature Boy“ etwa. Höhepunkt des Abends war Thelonious Monks „Well You Needn’t“. Wie hier zwei aufeinander ideal eingehende Musikerpersönlichkeiten einen Klassiker völlig neu ausloteten, in ihren Improvisationen weite Strecken zurücklegten und in halsbrecherischer Manier immer wieder zurückfanden zum Thema, das suchte seinesgleichen. Der gegenseitige Respekt war mit Händen zu greifen, als der 77jährige Rava betonte, welch große Freude und Ehre es ihm sei, mit Geri Allen zu spielen, was diese so unmittelbar wie ehrlich zurückgab.
Rava war an diesem Abend ausschließlich am Fügelhorn zu hören, der etwas größeren, wesentlich wärmer, weicher und samtiger klingenden Kusine der Trompete. Der Sound des 77jährigen reflektiert die Einflüsse von Chet Baker und Miles Davis, ergänzt freilich um einen starken Charakter und weit mehr als ein halbes Jahrhundert eigener musikalischer Lebenserfahrung.
Geri Allen zeigte sich auch bei ihrem bisher fünften Auftritt im Neuburger Birdland als eine der seltenen Pianistinnen, die in der Lage sind, Jazz weit über gegebene Grenzen hinaus zu denken. Sperrige Harmonien von frappanter Schlüssigkeit, eine tiefe Verwurzelung in der Tradition des Jazz, Auflösungen und Fortschreitungen, melodiöse Finesse und intime Gedankendichte, all das fügte sich zusammen zu zeitlos Neuem. Faszinierend wirkte die künstlerische Reife einer hochkonzentrierten Musikerin, die seit mehr als 35 Jahren eine der Schlüsselfiguren der New Yorker Jazzszene ist. Ein ganzes Universum von Musik erschloss sich hier, stark und klar, zart, durchdacht und stets souverän. Nie schien Geri Allen suchen zu müssen, in jedem Augenblick schon gefunden zu haben, in dem die Finger die Tasten berührten. Dazu hatte sie in Enrico Rava einen starken Partner an ihrer Seite. Das Konzert der beiden war wie ein Traum, eine eigene Dimension, ein beglückender Moment irgendwo inmitten der Weite zwischen dem Nichts und der Unendlichkeit.