Den Vibrafonisten Gary Burton stimmig in der Jazz-Historie einzuordnen, fällt schwer. Natürlich trägt er zu Recht den Living Legend-Status, weil er viele neue Spieltechniken entwickelte, unter anderem die heute populärste mit den vier Schlegeln, und als einer der ersten klassischen Jazzmusiker in den frühen 1960er Jahren Elemente von Country und Rock in seine Musik etliche Jahre bevor Fusion-Jazz in Mode kam einbaute. Doch in der jüngeren Vergangenheit verlor sich der smarte Amerikaner mit dem Professoren-Habitus in einer Wolke aus sanftem Wohlklang und harmonischem Klingeling; eine Rezeptur, die bei dauerhaftem Genuss die Wirkung eines akustischen Valiums entfaltete.
Nun, mit inzwischen 70 Jahren, steht dieser Gary Burton auf der Bühne des Ingolstädter Audi-Forums und scheint aus einem Dornröschenschlaf erweckt. Wo es bis vor kurzem nicht einmal den Hauch von widerspenstigen Disharmonien, kantigen Synkopen oder ähnlichen atmosphärischen Störfeuern gab, rumpelt es mit einem Mal heftig, und ein verblüffender Vergleich drängt sich auf. So klang auch Burtons vor allem in Deutschland bis heute kultig verehrter Landsmann Dave Pike in den 1970er Jahren. Dass dessen Output über vier Jahrzehnte später bei Wikipedia unter Lounge-Musik firmiert, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Gleichwohl wirkt The New Gary Burton Quartet wie ein Relaunch des Dave Pike Sets, das zu Lebzeiten eigentlich mehr rockte als loungte.
Titel wie Caminos oder The Look Out brettern im markanten Siebziger-Jahre-Sound los, angetrieben von Antiono Sanchez knackigem, viril-sensiblem Drumming, Scott Colleys kernig-mathematischem Bass-Groove und dem aufregenden Volker-Kriegel-Gedächtnis-Picking des phänomenalen Jung-Gitarristen Julian Lage. Mit gerade einmal 25 Jahren besitzt der Wunderknabe aus San Francisco längst die Funktion einer tragenden Säule in dieser Band der Koryphäen. Sein Beitrag zum neuen Burton-Sound ist essentiell; wegen der völlig gegen den Strich gebürsteten, riffartigen Akkordfolgen, wegen der kontrastierenden Fingerpickings, vor allem aber wegen seiner geradezu verblüffenden musikalischen Fantasie. So gehört Lages spinnennetzartiges, karges, fragiles, technisch brillantes Solo über My Funny Valentine zum Besten, was bis dato im Konzertsaal des Automobil-Herstellers auf einer Gitarre zu hören war.
Selbst da, wo die vier eine härtere Gangart anschlagen, bleiben ihre Stücke stets anmutige Tongedichte, die ihre farbigen Reize durch ausschweifende Improvisationen erlangen. Wenn andere Leben und Karriere Revue passieren lassen, dann erfindet sich Gary Burton mit einem merklich dreckigen Outfit quasi neu. Und der alte Burton darf obendrein in träumerischen Balladen wie Legacy oder der frenetisch beklatschten Vibrafon-Hymne Bags Groove als Zugabe seine persönliche Lesart von Lounge offerieren. Chapeau!