Die Frau hat Mut. Stellt sich einfach auf die Bühne eines der angesehensten Jazzclubs Europas und singt Songs aus ihrem Leben. Es sind Lieder, die sie geprägt haben, denen sie irgendwann nicht mehr entfliehen konnte, ganz egal ob sie nun aus dem Pop- oder Folklore-Lager stammen. Dazu hat sie eine überaus kompetente Band mitgebracht, die die Fahne des reinen, akustischen Jazz hochhält, wenn auch in einer angenehm untraditionellen Form. Wie ein Kontrapunkt wirkt darin der Syrer Hasan Al Nour, der mit der Kanun, einer Art orientalischer Zither, das Geflecht der Klangfarben um eine reizvoll, gleichwohl ungewöhnliche Nuance erweitert.
Esther Kaiser ist eine der besten improvisierenden Vokalistinnen in Deutschland, Professorin für Gesang im Bereich Jazz, Rock, Pop (mit Schwerpunkt Lehramt) an der Hochschule für Musik in Dresden und überdies ab kommenden August auch die neue Dozentin für Jazzgesang an der Neuburger Sommerakademie. Addiert man diese Faktoren mit dem Umstand, dass die 42-Jährige bei ihrem Debüt im Neuburger Birdland-Jazzclub eine ebenso außergewöhnliche wie mitreißende Performance ablieferte, so erscheint es umso unverständlicher, dass der Keller unter der Hofapotheke gerade mal zur Hälfte gefüllt war. Eine gute Gelegenheit für die Verantwortlichen der Sommerakademie, das „neue Personal“ zu begutachten, blieb somit ungenutzt. Dies wirft mithin ein bezeichnendes Licht auf den Stellenwert des Jazz in der Ottheinrichstadt, der sich immer mehr als Magnet für Besucher aus allen Teilen Deutschlands erweist, dem die eigenen Bürger aber bis auf ganz wenige Ausnahmen nahezu gleichgültig gegenüberstehen.
Die charismatische Berlinerin mag dies bei ihrer ersten Neuburg-Visite zur Kenntnis genommen haben. Gleichwohl liegt Esther Kaiser viel daran, alles in die Waagschale zu werfen, zu zeigen, dass ihre etwas andere Lesart des Jazz durchaus die manchmal in Standards festgefahrene Form aufbrechen kann. Sie traut sich. „Songs Of Courage“ heißt folgerichtig ihr neues Programm, in dem sie die etwas aus der Mode geratene Form des Scat-Gesangs mit lautmalerischen, instrumentenähnlichen, gutturalen Intermezzi von Musikalität, Finesse und Einfühlungsvermögen wiederbelebt. Sie singt nicht im flauschig-harmlosen Kontext von Liebe, sondern legt ihre Finger mit zeitlosen Ohrwürmern in brennende Wunden der Gegenwart. Kaiser intoniert Michael Jacksons „Earth Song“, eine Anklage gegen die globale Zerstörung der Umwelt, verleiht Pete Seegers Anti-Kriegs-Hymnen „Where Have All The Flowers Gone“ und „We Shall Overcome“ ein ungewohntes Klangbild, schwermütig, schleppend, als Zeitlupen-Balladen in Moll mit dunkel-melancholischem Timbre.
Zu Hanns Eislers „An den kleinen Radioapparat“ lässt die Sängerin wegen der Nähe zu Augsburg die Stimme von Bertold Brecht aus ihrem Smartphone erklingen – eine spontane Idee. Es gibt in die Jahre gekommene Preziosen wie „Revolution“ von den Beatles, „This Is Not America“ von David Bowie, „Masters Of War“ von Bob Dylan oder „Fragile“ von Sting, die heute wegen ihrer erschreckenden Aktualität wieder offene Ohren finden. Esther Kaiser wagt diese Schritte gemeinsam mit dem fein strukturierenden Pianisten Tim Derado, dem unverzichtbar stabilisierenden Bassisten Marc Muellbauer, dem druckvollen Drummer Roland Schneider und eben Hasan Al Nour. Nicht plätschernd, rührselig oder gar pathetisch, sondern angenehm authentisch, präsent und unter die Haut gehend. Eine mutige Entscheidung.