Wann ist Musik am besten? Wenn sie Geschichten erzählen kann! So gesehen besitzt Enrico Rava die Qualität eines Stammesweisen, der die Jungen um eine Feuerstelle versammelt und einfach zu reden beginnt. Kein zusammenhangloses Zeug, auch nicht die ewige Leier von früher, als alles angeblich besser war. Es sind Begebenheiten aus einem aufregenden Leben. Dem eines italienischen Musikers, der das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte, die Rückkehr Juan Peróns, die er in Buenos Aires mitverfolgte, Vietnam, 1968, die Black Panther-Bewegung aus seinem speziellen New Yorker Blickwinkel, die Rückkehr in sein Heimatland, die Revolution des Freejazz und seinen eigenen Aufstieg zu einem der besten Jazztrompeter der Welt.
Die Jungen lauschen und beginnen mitzudiskutieren. Sie vertreten durchaus ihre eigenen Standpunkte, ohne aber ihren Meister in Frage zu stellen. Aus Respekt, aber auch weil sie wissen, dass er auch heute noch auf dem richtigen Weg ist. Wie im ausverkauften Birdland-Jazzclub in Neuburg, wo der 75-Jährige mit seiner Band Tribe gastierte. Eine Horde hungriger Wölfe, die sich um ihren Leitwolf scharen, die besten italienischen Jazzmusiker der aktuellen Generation, und im Zentrum ihre Ikone. Ein atemberaubendes, quicklebendiges Gesamtkunstwerk voller Musikalität und Kraft.
Das Rudel drückt, es treibt. Posaunenballons des famosen Gianluca Petrella platzen, Ravas Trompetenpfeile sausen durch den Keller. Akkord-Gebäude des überragenden Pianisten Giovanni Guidi, der mit dem wachen Ohr für die fortlaufende Harmonik und deren vorsichtige Weitung arpeggiert, brechen wie ein Kartenhaus zusammen, ausgehöhlt von Gabrielle Evangelistas giftigen Basstropfen, während mannsgroße Schlagzeugbrocken von Fabrizio Sferra auf einen herniederprasseln. Metren verschieben sich, torkeln umher. Man glaubt, einen swingenden Puls erfühlen zu können, bis dieser wie ein aus dem Takt geratenes Herz zu kollabieren droht. Auch die Balladen sind anders: abseitig, beinahe wie im Delirium, schwerelos, voller Poesie. Im Auge dieses wahnwitzigen Taifuns, wo sich alles wie in einem Strudel zusammenzieht, bekommt jede Note freilich einen tiefen Sinn.
Enrico Rava, der mit seinen weißen, über die Schulter reichenden Haaren wie aus der Zeit geworfen wirkt, kredenzt ausschließlich ältere Titel: den dreckigen Garbage Can Blues etwa, das verlorene Planet Earth oder das gründelnde Incognito. Behutsam ertasten sich die Fünf die Songfragmente, loten sie auf ihre Möglichkeiten aus, drehen quasi einen neuen Hörfilm mit Leidenschaft, Witz und ihrer eigenen Persönlichkeit.
Der Altmeister, der inmitten seiner jungen Freude als Primus inter pares agiert, scheint es sich zur Aufgabe gestellt zu haben, der reinen Schönheit mit großer Klarheit ins Auge zu blicken, ohne dabei dem Kitsch anheim zu fallen. Dies gelingt ihm in altersweiser Souveränität mit atemberaubend lyrischen Linien, die er immer wieder mit lodernden Feuerstößen aufbricht. Dabei ist es oft ein Katzensprung vom Freejazz zur Sangbarkeit der mediterranen Canzone. Ein Konzerterlebnis von immenser Nachhaltigkeit.