Dino Saluzzi „Familiy“ 6tet | 11.04.2002

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Familienbande. Matias Saluzzi hält, während er am E-Bass delikate Drops in die Melodie plumpsen lässt, unaufhörlich Blickkontakt zu José Saluzzi, dessen feingliedrige, schlanke Gitarren-Pickings sich hauteng an den lyrisch-singenden Saxofonton von Zenón Saluzzi schmiegen. Vor ihnen hockt Celso Saluzzi, ein wuchtiges Bandoneon auf den Oberschenkeln, hingebungsvoll lauschend, lautlos ziehend und irgendwie akustisch völlig abwesend angesichts der unwahrscheinlichen Präsenz von Clanpatriarch Timoteo „Dino“ Saluzzi.

Dass alle bis auf Schlagzeuger Diego Alexander Brüder sind, will das Programm Glauben machen. „Aber dann von verschiedenen Müttern“, sucht ein Besucher des Ingolstädter Audi-Forums eine Erklärung für die teilweise gravierenden äußerlichen und ältersmäßigen Unterschiede des „Family Sextetts“. Ein Anhaltspunkt für genetische Parallelen könnte freilich die frappierende Balance sein, mit der die Saluzzi-Sippe plus Anhang 100 Minuten lang am schmalen Grat zwischen Jazz und Tango, Improvisation und E-Musik, Innerlichkeit und Kitsch entlang tänzelt.

Dino, inzwischen geläuterte 67 Jahre jung, hält dabei alle dramaturgischen Fäden in der Hand. Sein Spiel gleicht mehr denn je einer lachenden Träne, einem schwebenden Lufthauch, einem schmerzerfüllten Schrei in der Stille. Gehuschte, verschlierte, fast flüsternde Klänge, Melodien, bei denen das behutsame Ziehen der exotischen „Quetsche“, das Klappern ihrer Register oft lauter wirkt, als die dabei erzeugten Töne, und die irgendwann sogar die Lippen des ignorant plappernden Volkes in den hinteren Reihen des Museum mobile verschließen.

Die massige argentinische Erscheinung berührt das Bandoneon mit einer Sensibilität, als wären dessen Tasten aus Glas und die dabei verwendete Luft ein kostbares Gut. Im Sog seiner Soli entsteht eine kunstvolle, dunkel leuchtende Klanglandschaft, die immer neue Horizonte öffnet. Die schlichte, fast spartanische Klarheit ist das eigentlich Faszinierende an dieser kammermusikalischen Sternstunde. Alles wirkt balladesk, schwermütig und doch so verblüffend einfach. Bei den Saluzzis mutiert Tango zum traurigen Gedanken, den man tanzen kann, aber auf wundersame Weise niemals das Ende der Straße erreicht.

Über allem stehen Dino und das Bandoneon, die gemeinsam und ohne Begleitung etwa ein Drittel der gesamten Nettospielzeit bestreiten. Wenn der größte Melodien-Modellierer seit Astor Piazzolla seine ganze Menschlichkeit in den Balg transformiert, sich aufbäumt und mit schmerzerfülltem Gesicht Wunderbares produziert, dann wirkt es, als würde er gegen eine ungezähmte Bestie kämpfen. Ein gerechtes Duell, das keinen Sieger kennt, sondern nur schemenhafte Pausen, eklektischen Zauber, verwunschene Musik.