Der Rote Bereich | 17.02.2001

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Das ist der Jazz, vor dem uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Ungekämmt, schmuddelig und fettig kommt er daher, klingt dissonant, schräg, kratzbürstig und streift dergestalt durch die Hinterhöfe zwischen Mülltonnen und stinkenden Abzugshauben herum. Nach neun Jahren permanenter musikalischer Anarchie hat es „Der Rote Bereich“ nun endgültig geschafft: er ist zum Bürgerschreck der keimfreien deutschen Mainstream-Beschaulichkeit geworden.

Das rotzlöffelige Improvisationskollektiv wirkt an diesem Abend im für Tonexperimente solcher Fasson erstaunlich gut besuchten Neuburger „Birdland“ Jazzclub noch roter, noch abgedrehter, als man es von seinen mittlerweile vier veröffentlichten Platten her zu kennen glaubt. Bassklarinettist Rudi Mahall, Gitarrist Frank Möbus und Drummer John Schröder nehmen sich vor, aus den vielen einfach an die Wand geschmissenen Soundfragmenten schrille Gebilde voller Schärfe, Zynismus und Humor zu formen. Das Erstaunliche dabei: Das eigentlich aussichtslose Himmelfahrtskommando klappt. Es entsteht hinreißend kurzweilige Avantgarde, wie sie in dieser naiven Direktheit derzeit eigentlich nur in Berlin, der Wahlheimat der furchtlosen Drei, entstehen kann.

Die gebürtigen Nürnberger Mahall und Möbus und mit Abstrichen Schröder wirken wie Figuren aus einem schrulligen Cartoon, der die Aberwitzigkeit des ewig glorifizierten Mythos „Jazz“ wirklich saukomisch auf die Schippe nimmt. Der eine verbiegt sich ungelenkt zum Grunzen, Schreien und Röhren seiner Bassklarinette wie ein ekstatischer Skalenreiter, der andere kennt alle Gitarrenposen von Hendrix bis Joe Pass auswendig. Und dann die Titel ihrer Stücke: „Wer kommt mehr vom Sozialamt?“, „50 000 kleine Wichtigtuer“, „Der Eine zupft mehr an der Anderen“, „Chemischer Urlaub“, „Holzfällermedley“. Nomen est omen beim „Roten Bereich“. Immer.

Mal dröhnt deftiger, dröhnender Rock von der Bühne, dann tapsen leise, schlaftrunkene Balladen daher, die urplötzlich von ohrenbetäubenden Kakophonien erschlagen werden. Rudi Mahall, Frank Möbus und John Schröder erzählen dazu Geschichten von abstrusen Dingen, sie spielen abstruse Noten, denken (was das plötzliche, scheinbar völlig unmotivierte Lachen während eines Solos verrät) offenbar an ganz abstruse Dinge und sehen noch dazu in ihren Hochwasserhosen, ihren hochgestellten Jackenkragen und ihrer ganzen Körpersprache höchst abstrus aus. Ein Konglomerat des Abstrusen, das aber seltsamerweise niemanden abstößt, sondern anzieht.

Im „Roten Bereich“ gibt es keine Strukturen. Aber die sorglose Nichtbeachtung alles Bekannten schafft den Raum für eine ungewöhnliche Musik, die genauso expressiv und vielgestaltig ist, wie die äußeren Grenzen unserer Sinne. Gerade das brachiale, geröllartige „Lizard“ zum Finale oder die Zugabe „Love Me Tender“, bei dem die drei als Urheber nur „The King“ angeben, zeigt, worauf es wirklich ankommt. Mahall flötet und fiept zärtlich das kuschelige Thema vor sich hin, bis Möbus mit einem Axthieb auf die Saiten den ganzen flauschigen Schaumberg kaputt macht. Wie langweilig wäre das Leben doch ohne ein paar Überraschungen, ein wenig Aufregung, ein wenig Gefahr?