David Sanchez Group + Ron Carter „Dear Miles“ | 10.07.2008

Neuburger Rundschau | Dr. Tobias Böcker
 

(Sommerjazz 2008)

Wo Birdland draufsteht, soll auch Birdland drin sein, auch wenn das Konzert im Schlosshof ist. Und so gab es zum Auftakt des Sommerjazz 2008 anspruchsvollen zeitgenössischen Jazz zu erleben: David Sanchez, einen jener hungrigen Jazzer mit dem Herzen eines Löwen, der seit Mitte der 90er puertoricanisches Herzblut in die Szene gibt, und Ron Carter, den Altmeister am Bass, der schon in den 60ern an der Seite von Miles Davis maßgeblich an der Entwicklung der jüngeren Moderne beteiligt war.

Zunächst der Jüngere, David Sanchez, ein Saxophonist von Gottes Gnaden, intensiv lodernd, zu Beginn eher hermetisch, später mehr und mehr nach außen tretend in expressiver Selbstvergessenheit. Sanchez bedient keinerlei Klischee vom Samba-heißen Latin-Jazzer, spielt, was er selbst erfahren hat und weitergeben mag, technisch brillant, ausdrucksstark, immer ein wenig quer zum Mainstream gebürstet, daher weidlich unterstützt von einem Trio Gleichgesinnter mit dem norwegischen Klassegitaristen Lage Lund sowie Orlando LeFleming am Bass und Henry Cole am Schlagzeug. Höhepunkt des Auftritts: Die gut 20minütige Suite „The forgotten ones“ widmet die David Sanchez Group der Community von New Orleans, gebeutelt vom Hurrikan Katrina, nicht gebrochen jedoch. In aller Melancholie blitzt der unbändige Wille zu kreativem Neubeginn, kraftvoll, konsequent und auch auf krummen Pfaden geradeaus. Das zieht mehr und mehr in seinen Bann bis zur brodelnden Schlusssequenz, in der David Sanchez auch seine eigene Geschichte erzählt, die von einem jungen Kerl, der auszog aus Puerto Rico ohne ein Wort Englisch zu können, um dem Spirit des Jazz zu folgen, wohin immer es geht – bis hinein in die temporäre Filiale des Birdland im Neuburger Schlosshof.

Fast unglaublich elegant und kultiviert sodann der Gig von Ron Carter, dem Grandseigneur des Jazzbasses, Garanten für Timing, Esprit, Understatement, schlechthin Klasse! Kaum ein lebender Bassist dürfte in der Lage sein, ein Jazzquartett in derartiger Präsenz zur Entfaltung zu inspirieren allein durch die schiere Gegenwart seines Spiels. Keine virtuosen Spielereien, keine künstlich in Szene gepushten Soli, allein der machtvolle Ton, das unbestochene Feeling für Rhythmus und Zeit, die in jeder Hinsicht – und selbstverständlich virtuose – technische Perfektion, die Kunst der Überraschung in scheinbar wohlig fließender Musik, das alles und noch viel mehr mittet sich in und um diesen hypnotischen Bass.

Klar, ein Quartett mit Bass, Piano – Stephen Scott -, Schlagzeug – Payton Crossley-, und Percussion – Rolando Morales-Matos – ist per se auf Groove gepolt. Was aber hier passiert, ist nur mehr grandios: Transparent, klar, unmissverständlich und aus einem Erfahrungsschatz gespeist, den wohl nur wenige in so explizite und exquisite Musik umzusetzen wie Ron Carter. Was so mancher Traditionalist mit ideologischem Zuckerbrot und polemischer Peitsche durchzusetzen versucht – Der Jazz sei Amerikas klassische Musik – gewinnt hier, jenseits aller ideologischen Grabenkämpfe so unmittelbare Plausibilität, dass man der These unversehens zustimmen mag, sofern sie sich nicht exklusiv versteht. Kaum zu überbieten ist das an sublimer Raffinesse, abgeklärt cooler Erhabenheit, an schier überwältigender Klarheit, nicht zu unterschätzen auch die suggestive Macht der nicht gespielten Noten bis hin zur fast völligen Stille – schließlich lauetet das Motto „Dear Miles“!

Feinschmeckerjazz in unbestechlicher Qualität: Dafür steht das Neuburger Birdland auch an diesem wunderbaren Abend ohne jeden Zweifel!