Dave Douglas Quintet | 23.04.2004

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Aufgekratzt? Gar keine Frage! Der Mann mit der modischen Hornbrille, der auf Fotos eigentlich immer nur ernst dreinschaut, grinst breit. Wie ein Comedian steht er auf der Bühne des Neuburger „Birdland“-Jazzclubs, die Trompete in der Hand, und bringt die Leute zum Lachen.

Mit Geschichten über seinen Sohn, der wohl zuhause gerade aufs Klavier eindrischt („Zuerst hat er Karate probiert“) oder über einen Elektromarkt, der angeblich seine neue Platte nicht führt. Mit einem Lächeln auf den Lippen wird Dave Douglas plötzlich wieder ernst. Als er den Titel eben jener CD erklärt, die den Titel „Strange Liberation“ trägt und einer Rede Martin Luther Kings entlehnt ist, der seine Landsleute in Bezug auf Vietnam „merkwürdige Befreier“ nannte, da geschieht Ungewöhnliches. „Ich entschuldige mich für meinen Präsidenten“, sagt der amerikanische Jazzmusiker zum deutschen Publikum. Man dürfe sich nicht mehr alles gefallen lassen, müsse seinen ganzen Mut zusammennehmen. Um einfach wieder die Wahrheit auszusprechen.

Wie das funktioniert, zeigt der wandelbarste Trompeter des 21. Jahrhunderts mit seiner grandiosen Band zwei atemberaubende, denkwürdige Stunden lang. Sein Humor ist ein Zeichen der Stärke, des wiedergewonnenen Optimismus, seine Kreativität eine Waffe gegen die Dumpfheit, gegen eindimensionale Lösungen. Douglas, dieser hochintelligente Künstler, nimmt sich gerade in Zeiten wie diesen die Freiheit, an Frieden zu glauben („Vielleicht ist es naiv“), daran, dass die Irren einmal ganz von den Schalthebeln der Macht verschwinden. Und er möchte den Soundtrack dazu schreiben.

Es ist „nur“ Mainstream, nicht seine gewohnten Free oder Elektro-Improvisationen. Aber eine neue Hauptstraße, dezent gegenläufig zur alten, oft geflickten, auf der ganze Heerscharen von Boppern und Swingern entlang marschierten. Ein Sammelsurium elegisch-abenteuerlicher, verschachtelter Tempi und Harmoniewechsel. Alle persönlichen Einflüsse von Douglas finden sich darin: Monk, Miles aus der „Filles des Kilimanjaro“-Phase, simple Melodien, träumerische 4/4-Takte, sphärische und irdische Klänge.

Und die Band groovt wie der Teufel, vor allem James Genus am Kontrabass und der unglaubliche Clarence Penn am Schlagzeug, das vielleicht beste Rhythmusgespann, das je in den Katakomben der Hofapotheke den Takt angab. Dazu Uri Cane, der seinen Ruhm bislang ausschließlich frechen Mahler-Bearbeitungen verdankte: Im „Birdland“ hämmert er lustvoll einen Mörderakkord nach dem anderen in das elektrische Fender Rhodes-Piano – funky, nasty, tricky!

Und schließlich noch Seamus Blake. Wie der junge Tenorsaxofonist mit mächtig röhrenden, fluktuierenden Motivketten stets die richtige Antwort findet, wie dieser Akrobat am Mundstück zwischen Oberton und Bassregister wahre Kamikaze-Sturzflüge veranstaltet, ohne dabei Schaden zu nehmen, das veredelt den First-Class-Bläsersatz mit Douglas zur Unbezahlbarkeit. Der Chef, Gleicher unter Gleichen, ist weiß Gott kein musikalisches Fabelwesen, sondern ein Arbeitstier aus Fleisch und Blut. Schwitzend feuert er kraftvoll aus der Hüfte seine gleißenden High Notes, Growls, Salven und Giftpfeile ab. Sie treffen ausnahmslos – entweder ins Herz oder mitten in den Magen.

Das Größte passiert freilich gegen Schluss: Aus einem Basssolo von Genus, das sich wie eine Voodoo-Beschwörungsformel aus dem Staub erhebt, keimt ein gespenstischer, alles durchdringender Pendelgroove, in den erst Penn, dann Caine einmünden, Douglas einige gezielte Feuerstöße anbringt, ehe Blake zu einem Solo von der Zielstrebigkeit eines Wolkenkratzers ansetzt: „A single Sky“. In diesem Thema steckt schlicht alles, was politisch motivierte Musik ausmacht: Resignation, Spannung, Wut, schwier grenzenlose Lust zur Veränderung. Und die Menschen im johlenden, pfeifenden, restlos begeisterten „Birdland“ verstehen die Botschaft. Die wichtigste Erkenntnis im einem der wichtigsten Konzerte des Jahres.