Craig Taborn Piano Solo „Shadow Play“ | 11.02.2022

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Ein großes weißes Nichts. Keine Note auf dem Papier. Nur Ideen, Gedanken. Später, kurz vor der Pause, wird Craig Taborn dies wie folgt kommentieren: „Ich weiß nicht, wie ich anfange und was ich da spiele. Eigentlich sollte ich das nicht sagen, weil es unprofessionell klingt. Aber es ist nun mal so.“ Der 52-jährige amerikanische Pianist nimmt auf dem Klavierhocker Platz, legt die Finger in die Tasten und wartet. Dann drückt er langsam, kaum hörbar, eine Taste im Bassbereich, dann die nächste. Irgendwann kommt die rechte Hand dazu, kleine Melodien erwachen zum Leben, introspektive Musik voller spröder Schönheit und Zeitlosigkeit, wie Stalaktiten, die sich in einer Tropfsteinhöhle bilden. Mal eine Bluesfigur, dann scheinbar eine Ballade oder ein Kinderlied. Irgendwann glaubt man Standards herauszuhören oder ein verfremdetes „Blackbird“ von den Beatles.

Die Fans – an diesem Abend muss man diesen Begriff ausdrücklich hervorheben – im Neuburger Birdland-Jazzclub lauschen fasziniert, bewegen sich kaum, atmen leise. Nicht, weil sie womöglich Angst vor cholerischen Reaktionen hätten, wie sie Keith Jarrett bei seinen berüchtigten Piano-Solo-Recitals in seiner aktiven Ära immer wieder an den Tag legte. Craig Taborn ist entspannter, geerdeter und sich dennoch seiner ästhetischen Verantwortung bewusst. Die Menschen im Hofapothekenkeller saugen jeden Ton, jede Pause des Mannes am Bösendorfer-Flügel auf, eines Vortrags, der von der ersten bis zur letzten Minute komplett durchimprovisiert ist. Die Kompositionen entstehen quasi innerhalb von Sekundenbruchteilen und finden unmittelbar den Weg in die Klaviatur, die solistischen Parforceritte dauern eine Dreiviertelstunde. Nur zum Ende des ersten Sets stimmt Taborn „Rainbows“, eine Komposition von Ornette Coleman, an, die dieser selbst nie aufgenommen hat.

Bei allem, was der Pianist angeht, vermeidet er es mit stoischer Konsequenz, in ausgetretene Wege einzubiegen. Keine fesche Harmonie, keine wohlfeile melodische Entwicklung, keine Wiederholung, keine vorgefertigte Form, auch keine Sonate. Nur immer weiter, so, wie sich die Ideen entwickeln. Das Eine verbindet sich mit dem Andern und verändert sich unter dem Einfluss des Dritten. Selbst die Pedale fungieren als zusätzliche Tasten, damit er manchen Läufen scheinbar noch zusätzlich Patina verleihen kann. Es sind die leeren Klangräumen, die Craig Taborn füllt, nach und nach. Aus den aufeinanderfolgenden Tönen entwickeln sich kleine Muster, die er variiert, melodische Ideen, Rhythmen. Fast unmerklich verdichtet sich der Klang, sein Spiel wird lauter, drängender, aus den ersten, suchenden Tönen sind längst Klangberge entstanden und immer mehr zeigt der Flügel von seiner klanglichen Vielfalt, von dieser klirrenden Schärfe im Diskant, der Wärme des mittleren Registers und der wuchtigen Resonanz tief unten in den Bässen.

Natürlich verlangt der freundliche Zeitgenosse dem Instrument, aber auch dem Publikum einiges ab. Gegen Ende des Abends tackert er salvenartige Kurzmotive in den Bösendorfer, lässt korrespondierende Themengirlanden der Linken und Rechten einander umgarnen und landet schließlich in einem repetitiv gehämmerten Minimalismus-Muster, das er ein klein wenig zu lang spielt und es vielleicht einen Tick zu spät auflöst. Doch Taborn meistert auch diese Hürde dank seiner brillanten Anschlagskultur, seinem Sinn für Dynamik und Dramatik, immer auf der Hut vor einem versöhnlichen Finale.

Das Konzert fordert jeden im Raum, belohnt aber auch Publikum wie Musiker gleichermaßen. Irgendwann löst sich die Anspannung in Begeisterung auf, wollen die zuvor zur Bewegungslosigkeit verdammten Birdland-Besucher mit dem Applaus scheinbar nicht mehr aufhören. In diesem Moment wirkt auch Craig Taborn glücklich und zufrieden. Mit seinem erklärten Ziel hat er wieder alle Erwartungen übertroffen: Tasten suchen, Sinn finden!