Claude Williams And His Swing Quintet | 18.01.1997

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Im Spruch vom Wein, der mit zunehmendem Alter immer besser schmeckt, steckt so manche Ungereimtheit. Wer weiß schon, wann ein edler Tropfen endgültig dem Stadium der Verderblichkeit anheimfällt? Scheint es da nicht wesentlich sinnvoller, das vollmundige Bouqet in wohlwollender Erinnerung zu behalten, anstatt die Flasche in blinder Gier einfach zu entkorken und hinterzuschütten?

Daß Jazz oft mit feinem Wein verglichen wird, liegt am enormen Genußwert dieser Musikrichtung, aber auch an der beachtlichen Zahl großer Künstler, die über viele Jahrzehnte hinweg ihr Spiel ausformten, perfektionierten. Es gibt nicht wenige, die bis ins hohe Greisenalter unverzagt zum Instrument greifen und die Öffentlichkeit bei neuen Lebenszeichen immer wieder in ratloses Erstaunen versetzen. Benny Waters, der blinde Saxophonist, heute 95, ist so einer. Oder Benny Carter, immerhin schon 90, und Lionel Hampton, inzwischen 84, bis zu seinem kürzlich erlittenen zweiten Schlaganfall noch mit beiden Beinen im prallen Jazzerleben stehend.

Auch Claude Williams aus Kansas City, dessen eindrucksvolle Vita am vergangenen Samstag den „Birdland“ Jazzclub in Neuburg bis auf den letzten Platz füllte, muß uneingeschränkt zu dieser Kategorie gezählt werden. Innovativ, standfest, legendär – Williams verdient sich diese Attribute wie kein Zweiter. Schon in den 20er Jahren jammte er mit Nat „King“ Cole, stieg später bei Count Basie ein und durfte sich 1938 als weltbester Gitarrist feiern lassen. Erst danach sattelte Williams auf die Geige um, konkurrierte fortan mit Stuff Smith um die Vorreiterrolle der Violine im Bebop und erwarb sich durch seine virtuose Dynamik und seine bluesverwurzelten Riffs den Beinamen „The Hot Fiddler“.

Nun, mit 89 Lebensjahren, steht Williams immer noch auf der Bühne. Fast zwei Stunden dauerte sein mit bekannten Standarts wie „I can`t give you anything but love“, „Don`t get around much anymore“ oder „What a wonderful World“ gewürztes Programm, das der rüstige Oldie durchwegs im Stehen absolvierte. Man ist geneigt, vor solch lebensbejahender Vitalität den Hut zu ziehen. Ein Denkmal verwandelt sich in Fleisch und Blut, die swinggestählten Fans entlohnen solche Wunder gerne mit standing ovations.

Eine emotionsfreie Reflexion scheint angesichts derartiger Umstände wie ein Sakrileg. Aber sie drängt sich förmlich auf. Den betagten Williams trennen nämlich Welten von jenem virtuosen Feuerwerk des jüngeren „Hot Fiddlers“. Anstatt spritziger Flageoletts, vollmundiger Doppelgriffe und treibender Läufe dominiert eine gewisse Brüchigkeit des Geigenspiels. Der vorzügliche Altsaxophonist Norris Turney und der entertainende Pianist Red Richards, allesamt selbst gestandene Jazz-Senioren, können mit filigran abgestimmten Tutti-Passagen die deutlichen Phrasierungsschwächen kaum überdecken.

Selbst wenn es im Alter etwas entspannter zugehen mag, so entfacht Claude Williams Neuburger Darbietung neben Respekt aber auch Mitleid. Zum einen für die ungewollte Demonstration menschlicher Vergänglichkeit, zum anderen für die schmerzliche Gewissheit, daß einmal mehr einer der letzten lebenden Zeitzeugen der Gründerjahre des Jazz den Zeitpunkt verpaßt hat, um in Würde abzutreten.