Chris Potter Group | 22.11.2002

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Nichts, aber auch gar nichts mehr funktioniert bei Chris Potter in altbekannten Kategorien. Bei dem mit Abstand begehrtesten, vielleicht sogar besten, mit Sicherheit aber vielseitigsten Saxofonisten der Gegenwart sind sämtliche Stilbarrieren längst gefallen.

Eingefleischte Puristen merken spätestens nach zehn Minuten bei seinem restlos ausverkauften Konzert im Neuburger „Birdland“-Jazzclub, dass sie inzwischen nur noch einer verschwindend kleinen Minderheit angehören. Alles was bislang sorgsam getrennt nach Geschmäckern sein eindimensionales Dasein fristete, schäkert, flirtet miteinander und paart sich auf einmal relativ ungehemmt. Funk und Bebop legen ihren Stammbaum offen, die spirituelle Tradition der Gospels und der eher rhythmuslose Freejazz zeugen einen stramm vorwärts marschierenden Sprössling und Klassik und Ballade wissen sowieso längst, dass sie von den selben Eltern abstammen.

Manchmal, aber nur ganz selten ertappen sich Potter und seine Traumband in ihrer herrlich tabulosen Vereinigungsorgie freilich auch bei der Inzucht. Etwa wenn die vier auf der Bühne nur untereinander, aber nicht mehr mit dem Publikum kommunizieren, die Musik zu ihrem eigenen Vergnügen verästeln, auf die Spitze und darüber hinaus treiben. Dann wirken auch ambitionierte Titel wie „What you wish“ sonderbar zerrissen, erzeugen Stress und reanimieren längst vergessene Sehnsüchte nach der alten, normierten Erlebniswelt des Jazz.

Dabei handelt es sich jedoch wirklich nur um einige wenige Ausnahmemomente im ersten Set. Der große Rest bietet erhabene, hoch virtuose Improvisationen voller emotionaler Tiefe und intellektueller Reife sowie einen grandiosen Bandleader, der für beinahe jedes Thema eine völlig neue Lösung abseits der gängigen Saxofon-Lehrmeinung offeriert. Warum dem erst 32-jährigen, völlig allürenlosen Superstar immer wieder mühelos der Spagat zwischen Dave Holland, Dave Douglas und Steely Dan gelingt, zeigt ein Titel wie „Vicious Circles“. Potters Tenorsax schraubt sich wie eine Turbine ins Innere dieses mäandernden Bluesthemas, wechselt fliegend zwischen zerstörerischen Skalen und wunderbaren Melodiefetzen und steigt im Schlussakkord aus dem vermeintlichen Trümmerfeld wie ein strahlender Phoenix.

Nur Sekunden später ist Chris Potter in der Lage, ein Sopransolo von geradezu rührender Anmut ins Auditorium zu schicken. Ein Labsal für alle lärm- und schundgeplagten Ohren, das spürbare Narben in diesem Keller hinterlässt und sich langsam in einen reißenden Strom verwandelt. In diese offene Wunde streuen der intensive Pianist Kevin Hayes selten zuvor vernommene modale Salzprisen und der bestechende Bassist Scott Colley grandios mundende, farbige Gewürzkombinationen.

Übertroffen werden sie freilich noch von Drummer Bill Stewart, einem phänomenalen Jongleur der Tempi. Der schlaksige Feuerkopf trommelt, als verfüge er über eine eingebaute Software mit sämtlichen Rhythmen dieser Erde. Seine wunderbar gegen den harmonischen Kamm gebürsteten und von links nach unten geknüpften Duette mit Potter oder Hayes gehören zu den erlesensten Delikatessen eines mehr als außergewöhnlichen Abends.

An dem sich auch ein anderer (Rand-) Aspekt Bestnoten verdient hat: Selten zuvor was das Publikum im „Birdland“ respektvoller, aufmerksamer, begeisterter. Alles Fans des Jazzzauberlehrlings Potter und seiner grenzenlosen Musik.