Charlie Mariano feat. Christoph Stiefel Trio | 04.03.1995

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

„Ist der überhaupt Jazzer?“ Der oberflächliche Musikfan hobelt unbarmherzig alles gleich. Ausflüge in den Bereich des Showbiz und der kommerzielleren leichten Muse, wie im Falle von Charlie Mariano, machen die über jahrzehntelang mühevoll aufgebaute Reputation innerhalb kürzester Zeit zunichte. Und der Fragesteller vom vergangenen Samstag im Neuburger Birdland-Club ist beileibe kein Einzelfall. Der Anteil derer, welche die fernseherprobte, nicht zuletzt von Konstantin Weckers Begleitband und zahlreichen anderen Chanson- und Schlagerproduktionen her bekannte weißhaarige Lichtgestalt im randvoll besetzten Hofapotheken-Keller sehen wollten, war mit Sicherheit ähnlich hoch, wie der jener, die nur gekommen waren, um „den schönsten Saxophonton der Welt“ zu hören.

Ist Charlie Mariano also ein Jazzer? Die Frage macht schon vom Prinzip her keinen Sinn. Der 71jährige Italo-Amerikaner mit Schaffenszentrum in Europa hat zeitlebens nie etwas anderes gemacht, als Jazz, sei es in den Bands von Stan Kenton, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Eberhard Weber oder dem United Jazz & Rock Ensemble. Daß er nebenher seinen künstlerischen Horizont erweitert (auch um des lieben Geldes wegen), kann allenfalls Scheuklappen-Puristen stören. Dem Neuburger Birdland Jazzclub war der große alte Mann des Jazz mit dem Trio des jungen Schweizer Pianisten und Keyboarders Christoph Stiefel sogar das Auftaktkonzert des Monates März wert, in welchem der Verein bekanntlich sein zehnjähriges Wiedergründungs-Jubiläum mit vielen Top-acts feiert.

Vier Musiker, ein Ziel: nämlich eine durchsichtig-melodiöse, fast schon lyrische, aber keinesfalls schnulzige Synthese zwischen mehreren Stilen zu weben, wobei die Grenzen stets im Fluß begriffen sind. Der Kopf der Band ist zweifellos Christoph Stiefel, von dem bis auf eine Ausnahme alle Kompositionen stammten, das Herz dagegen Charlie Mariano. Wie die intelligenten, teilweise sogar brillanten Arrangements verblüffend logisch für Marianos Wunderhorn maßgeschneidert waren, kam bereits beim Opener „Passion“ zum Ausdruck.

So als wollte er Gedichte in Noten erzählen, blies der Mann aus Boston auf die ruhige Konstanz der Pauken von Aushilfsdrummer Jeff Hirshfield (der mehr, als nur ein Ersatz für den verletzten Wolfgang Haffner war) betörend schöne, fließend weiche Linien. Daß er dies noch dazu mit dem sperrigen Sopransaxophon tat, welches viele Jazzkenner zurecht als „Fischhorn“ bezeichnen, steigerte den Überraschungseffekt dieses furiosen Auftaktes zusätzlich.

„From afar“ förderte dann die Schokoladenseite von Christoph Stiefel zutage, der auf den 88 Pianotasten offenkundig gerne seine Träumereien in Musik umsetzt und irgendwo zwischen dem frühen Bill Evans und einem jazzinfizierten Debussy anzusiedeln ist. Daß Stiefel die mitgebrachten Keyboards im Hofapothekenkeller nur spärlich einsetzte und die über dem Klangteppich liegenden Linien lieber dem manchmal orientalisch klingenden Altsaxophon Marianos überließ, konnte dem Gesamteindruck des Abends nur guttun. Des Schweizers seltene Fähigkeit, ein Solo harmonisch reifen zu lassen, seine subtile Anschlagsdifferenzierung sowie sein impressionistisch nuanciertes Spiel nahmen bei gedrosseltem Tempo sofort gefangen. Wenn der Charakter eines Stückes freilich in Richtung Bebop oder gar Blues tendierte, bemerkte das Auditorium sehr schnell, daß der gefragte Jazzrock-Spezialist alles andere, als ein feuriger Swinger ist.

Für das Temperament und den Groove hatte Stiefel deshalb mit dem Freiburger Dieter Ilg einen der versiertesten und wandlungsfähigsten Kontrabassisten Europas mitgebracht. Ilg behandelt sein Instrument wie eine Gitarre und wechselt beinahe fliegend von der Rolle des unauffälligen Begleiters in die des rhapsodierendes Melodieführers. Entweder samtig- weich in „Nice little Tune“ oder erdig-straight in der funkähnlichen Zugabe „Wheat Fields in the Wind“ – Ilg fühlt sich überall heimisch und hat ganz offenkundig in dieser offenen, modern strukturierten, akustischen Konzeption seinen Idealjob gefunden.